"Wir hatten nix, nur Umlaute" ist der Titel des Buches von Nils
Heinrich. Das kann man von dieser kleinen schriftstellerischen Kostbarkeit nicht
sagen - ganz im Gegenteil - sie hat eine ganze Menge. Nils Heinrich, 1971 in
Sangerhausen Kreis Halle geboren, erzählt über seine Kindheit und Jugend in
diesem unspektakulären Örtchen, in dem er dann auch 10 Jahre lang die
Schulbank drückte und bis zur Wende eine Lehre als Konditor begann. Er führte
ein durchschnittliches Jugendlichen-Leben in einer
Otto-Normalverbraucher-Familie, die ein "Weltstar aus Beton", die
Berliner Mauer, von den anderen, eigentlich ebenso normalen Familien im Westen
trennte.
Da ich ein absoluter "Wessi" bin und keinerlei Vergleiche eigener
Erfahrungen zu seinen Schilderungen heranziehen kann, bin ich seinen
intelligenten, humorvollen, mit Sarkasmus ausgestatteten Erinnerungen
vorbehaltlos ausgeliefert. Ich habe keine Veranlassung, meine Gedanken
dahingehend abschweifen zu lassen, dass ich mich frage, wie es damals bei mir
eigentlich gewesen ist, sondern ich kann mich einfach mitnehmen lassen auf die
Reise in eine kritisch und dennoch verständnisvoll betrachtete "Ossi"
- Vergangenheit, in welcher das amusierte Lachen genau so zuhause ist wie die
Wut über ein beschränktes System oder die Sehnsucht nach Unerfüllbarem.
Kurzweilig und phantasievoll bringt Nils Heinrich dem Leser Anekdoten aus seinem
Leben vor und nach dem Systemwechsel nahe und spart nicht mit recht deutlich
ausgeschmückten Vergleichen, sodaß es nicht viel Mühe macht, sich ein Buch
lang in Sangerhausen "zuhause" zu fühlen, selbst wenn über der
Rosenstadt die Geruchsschwaden aus den Schloten der Abdeckerei dem Duft der
Blumen das Dasein streitig machen. Der irrwitzige "Material-Mix" aus
dem die Dinge des alltäglichen Lebens damals hergestellt wurden, seien es die
Bestandteile der "Eierschecke" oder der Bausatz für den Trabi, ebenso
wie die fragliche Verwandtschaft des "Dessauer, Hell" mit dem
Gewässer der Mulde, erstaunen und amusieren den Leser in diesem
Kabinettstückchen eines Buches.
Mit einem Augenzwinkern, das den Ernst mancher Gedanken in dieser Zeitreise
mildert, gewährt der Autor Einblicke in ein Leben, das uns - auf der anderen
Seite - nie so bewußt geworden ist, bevor die Trennung des deutschen Volkes
Vergangenheit wurde und die Geschichten und Erzählungen keine Grenze mehr
überwinden mussten. Wunderbares Buch, dessen feinsinnige Art zu erzählen mehr
auslöst, als man glaubt.
Fazit
Ein uneingeschränktes Lesevergnügen aus einer Zeit, die gar nicht so weit
zurück liegt und dennoch durch willkürliche Trennung so weit entfernt scheint.
Absolute Leseempfehlung.
Vorgeschlagen von brillenbaby
[Profil]
veröffentlicht am 30. Januar 2013 2013-01-30 15:47:40