Die 1960 geborene irisch-britische Autorin Siobhan Dowd verstarb 2007 nach
dreijähriger Krankheit an Brustkrebs. Dowd kam erst spät zum Schreiben. Ihre
drei zu Lebzeiten veröffentlichen Romane (A swift pure cry/Ein reiner Schrei,
The London Eye Mystery/ Der Junge, der sich in Luft auflöste und Bog
Child/Anfang und Ende allen Kummers ist dieser Ort) wurden mit mehreren Preisen
ausgezeichnet. Solace of the Road/Auf der anderen Seite des Meeres konnte erst
nach ihrem Tod veröffentlicht werden. Doch der Roman war genauso lebendig und
packend wie seine Vorgänger. Ihr fünftes Werk konnte sie nicht mehr vollenden.
Doch es gab bereits ein detailliertes Exposé, einen Anfang, die Figuren. Aus
diesem Romanfragmenten schuf dann der 1971 geborene US-amerikanische Autor
Patrick Ness A monster calls, dessen deutsche Übersetzung Sieben Minuten nach
Mitternacht mit wunderbaren Illustrationen von Jim Kay gerade vor mir liegt.
Mit diesem Buch gelang ihm - posthum, und obwohl er nie persönlich auf Dowd
traf - eine wundervolle Gemeinschaftsarbeit. Der Roman passt nicht nur zu Dowds
Schreibstil, ist also ebenfalls aufrüttelnd, lebendig, einfühlsam und
berührend geschrieben. Er ist darüber hinaus ein würdiger Abschluss der Idee
der wunderbaren, viel zu früh verstorbenen Autorin. Ness, der bisher mit seinen
ebenfalls preisgekrönten SF-Romanen für Jugendliche von sich reden machte,
überzeugt mit diesem Roman und erhielt sowohl die Carnegie Medal wie auch den
Deutschen Jugendliteraturpreis.
In Sieben Minuten nach Mitternacht geht es um Conor. Die Mutter des 13Jährigen
unterzieht sich gerade erneut einer Krebsbehandlung, doch es ist abzusehen, dass
sie den Kampf gegen ihre Krankheit nicht gewinnen kann. Sein Vater lebt in
Amerika, hat eine neue Familie gegründet.
Gleich eingangs wird klar, wie schwach Conors Mutter bereits ist. Und wie schwer
die Situation für Conor sein muss, der ihren sukzessiven Verfall aus nächster
Nähe miterlebt. Er liebt seine Mutter über alles und möchte sie nicht
verlieren. Deshalb klammert er sich verständlicherweise an die kleinsten
Strohhalme der Hoffnung, redet sich selbst gut zu und vieles schön. Da er
jedoch weiß, wie sehr seine Mutter sich quälen muss, fühlt er sich schuldig,
weil er sie nicht loslassen kann. Unbewusst ist ihm längst klar, dass der Kampf
verloren ist. Bewusst lässt er dieses Denken jedoch nicht zu und fühlt sich
noch schuldiger, wenn er sich und ihr wünscht, dass sie endlich sterben darf.
Der Kummer, der ihn erfüllt, während er hilflos beobachten muss, wie seine
Mutter von Tag zu Tag schwächer wird und das Wissen um den baldigen Verlust
nehmen ihm den Atem. Tagsüber wird er immer unberechenbarer, worauf jedoch
niemand strafend reagiert, wie er sich das eigentlich wünscht. Alle nehmen
Rücksicht auf ihn. Nur in seinen Träumen nimmt der Tod seiner Mutter - seine
größte Angst, der gleichzeitig auch sein größter Wunsch ist - Gestalt an.
Dann entgleitet sie ihm. Stürzt ab, weil er sie nicht mehr halten kann. Dieser
monströse Albtraum lässt ihn Nacht für Nacht panisch und schweißgebadet
Sieben Minuten nach Mitternacht hochschrecken. Er kann sich niemandem
anvertrauen. Und dann nimmt ein ganz anderes Monster Gestalt an und drängt in
sein Leben. Eine Eibe vom Friedhof verwandelt sich um Sieben Minuten nach
Mitternacht.
"Wer ich bin?", wiederholte das Monster, immer noch brüllend.
"Ich bin das Rückgrat, auf dem die Berge ruhen! Ich bin die Tränen, die
die Flüsse weinen! Ich bin die Lunge, die den Wind atmet! ... Es sah Conor
direkt in die Augen. "Ich bin die wilde Erde selbst, und ich bin
deinetwegen hier, Conor O'Malley."
So schrecklich das Monster auch ist, Conor fürchtet sich nicht vor ihm. Es
erzählt ihm drei Geschichten und will dann als vierte Conors Wahrheit von ihm
hören. Eine Wahrheit die Conor schmerzt und LeserInnen zu Tränen rührt, egal
ob es sich um das jugendliche Zielpublikum oder jemanden wie mich handelt, die
etliche Jahre davon entfernt ist. Denn das Monster kennt seine größte Angst
und seinen innigsten Wunsch, für den er sich selbst hasst.
Das Buch ist temporeich und beschreibt den Alltag des Jungen. Es enthält neben
dem thematisch ernsten, überaus emphatisch umgesetzten Teil auch humorvolle
Streitgespräche zwischen Conor und der Monster-Eibe. Im Gegensatz zu allen
anderen packt sie ihn nicht in Watte. Trotzdem fühlt sich Conor nicht im
geringsten von ihr eingeschüchtert, geht teils sehr respektlos mit dem riesigen
Baum um, sieht er doch die Geschichten als unsinnig an. Doch sie haben einen
tieferen Sinn, der sich gegen Ende offenbart. Sie zeigen nicht nur, dass gut und
böse willkürliche Begriffsdefinitionen sind. Sie lehren Conor auch, dass er
seine Gefühle zulassen muss, um von seiner Mutter Abschied nehmen zu können.
Das alles beschreibt Ness voller Symbolkraft in einer klaren, bildhaften Sprache
und webt so eine authentische Atmosphäre. Diese ist teils unheimlich aber
niemals so bedrohlich, dass man das Buch weglegen möchte. Trotz des
fantastischen Elements lässt sie keinen Raum für Fantasie im Hinblick auf die
gegebene Situation. Ness beschreibt diese schnörkellos und ohne
Beschönigungen. Erschafft lebendige Charaktere wie Conor, der trotz seiner
Hilflosigkeit stark ist. Auf jeder Seite fühlt man sich mitten darin, direkt
neben dem Jungen; bis Ness voller Emotionen aber gänzlich unsentimental Conor
Sieben Minuten nach Mitternacht die letzten Momente mit seiner Mutter erleben
lässt. Unterstützt wird das so entstehende Kopfkino durch die Illustrationen
von Kay, die schwarz-weiß gehalten, perfekt dazupassen.
Obwohl früh klar ist, dass der Tod über das physische Leben von Conors Mutter
siegen wird, das Buch also Trauer, Wut und Hilflosigkeit thematisiert, plädiert
es noch weitaus mehr für das Leben. Lässt Liebe und Verständnis nicht außen
vor. Vor allem jedoch spricht Ness direkt an, was in unserer Gesellschaft gerne
verdrängt wird. Was uns sprachlos und hilfslos macht.
Fazit
Kein leichtes Buch, das man einfach so nebenbei lesen kann oder sollte, dazu ist
es zu sehr an die Realität angelehnt. Sieben Minuten nach Mitternacht ist
jedoch eine gelungene Umsetzung eines schwierigen Themas und durchaus eine
symbolträchtige Hilfestellung für real vergleichbare Situationen. Was die
jugendliche Zielgruppe betrifft: Ja, es ist für sie geeignet, allerdings würde
ich sie nicht mit diesem Buch alleine lassen, da ich denke, dass Gespräche dazu
sinnvoll wären. Darüber hinaus ist es jedoch auch für ältere LeserInnen
lesenswert. Eine unendlich traurige, zeitlose Geschichte die tief berührt und
nachdenklich macht. Eine, die man nicht so einfach vergessen kann und sollte.
Ein wunderbares Buch, trotz der darin enthaltenen Tragik.
Vorgeschlagen von Ati
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veröffentlicht am 30. Januar 2013 2013-01-30 15:46:18