Es gibt eigentlich so gut wie nichts, was ich lesetechnisch nicht zumindest
einmal ausprobiere. In diesem Zusammenhang landete der Roman des
US-amerikanischen Gangsta-Rappers 50 Cent auf meinem SuB. Dort lag er allerdings
nicht lange, denn meine Nichte fragte mich, wie ich das Buch finde. Und eine
entsprechende Antwort konnte ich ihr schließlich erst nach der Lektüre
geben.
Was erwartet einen in einem Buch, in dem jede Menge 50 Cent in der Hauptfigur
stecken soll? Immerhin ist besagter Gangsta-Rapper nicht unbedingt
strafunauffällig geblieben und sein Leben war alles andere als unbewegt. Curtis
Jackson III, alias 50 Cent, wurde 1975 in Queens geboren. Seinen Vater kennt er
nicht, seine Mutter, eine Crackdealerin, wurde ermordet, als er gerade acht war.
Fortan lebte er bei seinen Großeltern. Mit zwölf handelte er selbst mit Drogen
und verbüßte bis zu seinem 18. Geburtstag bereits mehrere Haftstrafen. Von Jam
Master Jay entdeckt, von seinem Label und bald darauf von Columbia Records unter
Vertrag genommen, endete im Mai 2000 50 Cents Karriere wieder, bevor dort sein
Debütalbum herausgegeben wurde. Jackson war kurz zuvor zunächst
niedergestochen und später angeschossen worden und Columbia fürchtete
Negativschlagzeilen. Er kehrte in die Welt der Drogen zurück und bekam eine
zweite Chance, als Eminem ihn 2002 unter Vertrag nahm. Neben seinen
Drogendelikten wurde 50 Cent auch wegen Körperverletzung angeklagt und erhielt
2005 bei seiner Verurteilung zwei Jahre auf Bewährung und die Auflage, sich
regelmäßig Antiaggressionstraining und Drogentests zu unterziehen. Das ist die
eine Seite. Darüber hinaus ist 50 Cent jedoch für seine Alben und Singles
mehrmals ausgezeichnet worden. Mit dem American Music Award, Platin und Gold,
dem Bravo Otto, dem Echo, Brit Awards oder auch dem Grammy. Auch die Filme,
in/an denen er mitwirkte, etwa der über sein Leben (Get rich oder die
tryin‘), wurden kontrovers diskutiert. Vor allem der gerade genannte, in dem
genau wie in vielen seiner Lieder Waffengebrauch und damit Gewalt verherrlicht
wird. playground ist übrigens nicht das erste Buch, an dem er beteiligt ist.
2005 erschien bei Hannibal Dealer, Rapper, Millionär von 50 Cent und Kris Ex.
Und auch ansonsten vermarktet der 37Jährige sich selbst geschickt. Sei es mit
Klingeltönen oder Bekleidung, Computerspielen, Heftromanen oder Getränken.
2006 soll er laut Forbes Magazine 32 Millionen Dollar verdient haben.
Alleine nach dem Blick auf seine Biografie war ich geneigt, meiner Nichte zu
sagen: Finger weg. Anderseits soll laut Verlagsseite beispielsweise Bette Midler
gesagt haben: "Ich verneige mich vor 50 Cent, weil er dieses Buch
geschrieben hat." Die ist ja nun nicht gerade für Gangsta-Rap und
Hardcore-Filme bekannt. Und außerdem verlegt rowohlt POLARIS das Buch. Der 2010
gegründete Verlag will mit jedem seiner Titel Besonderes bieten. Jährlich
sollen beispielsweise 12 Titel im Bereich Belletristik herauskommen. playground
ist dieses Jahr einer dieser Titel. Es sollen Spannung, Fantasy und Humor
dominieren, wie man auf der Homepage sehen kann. Das alles in niveauvoller Form
für alle zwischen 16 und 66.
Ich ging anhand der Inhaltsangabe davon aus, dass Fantasy und Humor in
playground sicher nicht dominieren würden, womit nur die Spannung blieb. Und
die beschränkte sich bei mir anfangs ganz profan auf Dinge wie etwa die
Sprache. Gettoslang? Auf so jugendlich getrimmt, dass ältere LeserInnen
vielleicht Verständnisprobleme damit haben? Ergeht sich der Roman in einer
ausführlichen Beschreibung des Drogenmilieus? Verherrlicht er Waffen? Strotzt
er vor Gewaltexzessen? Die Titel der 50 Cent Alben/Singles (etwa The Massacre
oder Before I self destruct) stimmten mich diesbezüglich nicht sehr
hoffnungsfroh.
Liegt es daran, dass zum Schreiben des Buches Laura Moser herangezogen wurde,
die vermutlich nach Gesprächen mit dem Rapper die Finger auf die Tastatur
niederprasseln ließ. Sie steht zumindest unter 50 Cent auf dem Titelblatt innen
und wird auch etwa bei Amazon als Autorin genannt. Oder daran, dass 50 Cent
heute anders denkt als vor einigen Jahren. Jedenfalls wurde keine meiner
negativen Befürchtungen bestätigt. Und gleich vorab: Die Altersgruppe stimmt.
Mir bleiben zwar noch einige Jahre, bis ich 66 bin, doch bin ich schon
wesentlich länger keine 16 mehr. Die Sprache ist verständlich und klar und
für die gesamte anvisierte Altersgruppe geeignet. Ob dies an der Übersetzung
liegt, weiß ich nicht, da ich das Original nicht gelesen habe. Auf alle Fälle
tauchte ich gleich anfangs in die dicht gesponnene, authentische Atmosphäre der
Geschichte ein. Ich litt mit den Figuren. Ich ärgerte mich mit ihnen und über
sie. Ich entwickelte Verständnis für sie.
Sie könnten übrigens auch gleich nebenan wohnen. Die Geschichte spielt zwar in
einem Vorort von New York City in der jüngeren Vergangenheit. Doch beides
könnte ohne Probleme getauscht werden.
Obwohl verfickt, Scheiße und ähnliche Worte verwendet werden, gibt es keine
Fäkalsprache im eigentlichen Sinn, die gerade angesprochenen Formulierungen
tauchen nur relativ begrenzt auf. Obwohl Gewalt vorkommt, wird sie nicht
verherrlicht. Schusswaffen beispielweise finden, genau wie Messer oder
Schlagringe keinen Platz in der Geschichte. Von Jugendgangs ist nicht wirklich
die Rede und auch Drogen werden nur in einem einzigen Satz erwähnt. Einbrüche?
Nein. Diebstahl? Ja, man liest davon, aber auch Stehlen bestimmt nicht den
Alltag der Hauptfigur.
Stattdessen nimmt man mehr oder weniger teil an einem Dasein in einer relativ
harmlosen Vorortgemeinschaft. Ich habe jetzt bewusst das Wort Dasein gewählt,
denn himmelblau und wunderschön ist das Leben dort jedoch bei Weitem nicht
automatisch. Trostlos trifft es für einige viel eher. Und die Schule ist ein
Ort, der Angst machen kann. Nicht weil dort pausenlos Gewaltexzesse beschrieben
werden. Selbst Taschengeldabzocke bekommt man nur ganz am Rand mit. Angst macht
eher die Denkweise mancher Schüler, die Unterdrückung und Ausgrenzung, das
Wegsehen und Tolerieren. Falscher verstandener Respekt und absolute
Respektlosigkeit angesichts nicht vorhandener oder extrem verschobener
Wertvorstellungen. All das gibt es nicht erst seit wenigen Jahren und nur in den
Staaten. Doch über die Jahre hat sich dieses Verhalten stark verschärft und in
dieser verschärften Form auch an vielen unserer Schulen Einzug gehalten. Ich
kenne mehr als ein Kind, das Angst hat, in die Schule zu gehen. Nicht wegen
schlechter Noten oder den Lehrern sondern einzig wegen anderer Schüler. Das
Kind einer Bekannten war so unter Druck, dass es sich erst nach einem
Selbstmordversuch seinen Eltern anvertraute. Die Hauptfigur aus playground steht
jedenfalls am Scheideweg. Geht es für sie einfach trostlos weiter oder
verpfuscht sie sich ihr Leben?
Diese Hauptfigur heißt Burton. Den Namen erfährt man erst relativ spät,
immerhin ist der 13Jährige allen eher als Butterball, B-Ball, oder auch alte
Speckschwarte und Fettschwabbel bekannt. Nach der Trennung seiner Eltern zog er
mit seiner Mutter in einen Vorort, musste eine neue Schule besuchen. Sowohl die
Trennung als auch der Neuanfang machen Butterball zu schaffen, ist er doch meist
sich selbst überlassen. Er nimmt zu, ist übergewichtig, was nicht gerade zu
seiner Beliebtheit beiträgt. Alte Freundschaften scheinen nicht zu existieren.
Neue sind auch nach zwei Jahren spärlich gesät. Genauer gesagt gibt es da nur
Maurice. Doch die beiden verbindet als Außenseiter eher eine Zweckgemeinschaft.
Und dann ist da noch Nia, die freundlich zu Butterball ist. Obwohl sein Vater
selten Zeit für ihn hat, bedeutet er dem Jungen viel. Und obwohl auch seine
Mutter angesichts ihrer Ausbildung und Arbeit so gut wie nichts mit ihm
unternehmen kann, fühlt er sich nach außen nur bedingt allein und ist froh,
wenn man ihn in Ruhe lässt.
Eines Tages passiert etwas, was alles durcheinanderwirbelt. Damit startet der
Roman im Grunde genommen. Weil Butterball denkt, dass Maurice Lügen über ihn
verbreitet, will er ihm das Maul stopfen und verprügelt ihn brutal. Die Wirkung
dieser Aktion ist fatal und so realistisch dargestellt, dass sie erschüttert.
Sein Vater hält ihm mehr oder weniger eine Standpauke. Nicht für das, was er
getan hat, sondern dafür, dass er sich hat erwischen lassen. Nia hat Angst vor
ihm und blickt gleichzeitig zu ihm auf. Seine Mutter steckt ihn in
Zusammenarbeit mit der Schulleitung in eine Gesprächstherapie, damit er nicht
von der Schule fliegt. Und ansonsten kennen ihn plötzlich Leute, die ihn vorher
bestenfalls nicht beachtet oder verhöhnt haben. Klopfen ihm anerkennend auf die
Schulter. Diese Anerkennung will er sich nicht gleich wieder verscherzen und tut
deshalb Dinge, hinter denen er nicht wirklich steht.
Auf die Gesprächstherapie hat er absolut keine Lust, sieht aber ein, dass sie
nötig ist, um nicht von der Schule verwiesen zu werden. Also geht er
widerwillig hin. Und was anfangs unmöglich scheint, vollzieht sich in aller
Stille. Er beginnt sich seiner Therapeutin, für die er zunächst allenfalls so
etwas wie wohlwollende Verachtung übrig hat, zu öffnen.
50 Cent und Laura Moser lassen Butterball seine Geschichte selbst erzählen.
Dies geschieht zum Teil so, dass er LeserInnen an den Sitzungen bei seiner
Therapeutin Liz teilnehmen lässt, dann wieder rückblickend den Fokus darauf
lenkt, was letztlich überhaupt zu diesen Sitzungen geführt hat. Und zwar in
einem Stil, der berührt, nachdenklich macht und wie bereits erwähnt auch
erschüttert.
In 34 Kapiteln lernen LeserInnen nach und nach keinen tollwütigen Schläger
kennen. Vielmehr offenbart sich ein einsamer Junge, der neben seiner Wut auch
seine Ängste unterdrückt, seine Hoffnungen eigentlich schon aufgibt, bevor er
sie sich zu sehr ausmalt. Der nicht viel über Gefühle redet, weil er das von
zuhause nicht gewohnt ist. Der sich verzweifelt nach Anerkennung sehnt. Erfährt
von seinen Träumen und Wünschen. Lernt ihn schlagfertig und sarkastisch
kennen. Teils verbittert, teils selbsteinsichtig. Und fatalistisch, denn im
Grunde geht er davon aus, ja doch keine Chance zu haben. Butterball fühlt sich
wertlos, denkt bestimmte Dinge verdient zu haben. Angesichts des Umgangstones
oder auch des Erziehungsstils seines Vaters scheint dies kaum verwunderlich. Die
Werte, die ihm seine Mutter vermitteln will, sieht er größtenteils nicht.
Obwohl er nicht gänzlich respektlos ist, fehlt es ihm an Respekt. Trotzdem kann
der Junge durchaus zwischen Recht und Unrecht entscheiden und beginnt
nachzudenken. Wie 50 Cent hat auch Butterball eine kreative Ader, wenngleich er
diese nicht durch Musik ausdrückt. Findet er damit einen Ausweg aus seiner
Situation?
Fazit
Wer in playground so etwas wie eine reine Milieustudie von 50 Cents Jugend und
Drogenzeit oder Ähnliches, reißerisch von einem Ghostwriter aufgemotzt,
erwartet, sollte die Finger von dem Buch lassen. Curtis Jackson III, alias 50
Cent, weiß durchaus, wie man zum Schläger wird, und hat Erinnerungen aus
seiner Jugend (aller Wahrscheinlichkeit nach extrem abgemildert, jedoch nicht
geschönt) in die Geschichte einfließen lassen. In der Einleitung meldet sich
er selbst zu Wort und erinnert seine Leser an etwas, was er in seinem von Höhen
und vielen Tiefen geprägten Leben gelernt hat. Zitat: "Ein Schläger zu
sein bringt dich nirgendwohin." Nicht jeder hat so viel Glück wie der
Gangsta-Rapper und Multimillionär, der mehr als eine Chance erhalten hat. Doch
nicht jeder muss vollkommen abstürzen. Wer wissen will, ob es Butterball
gelingt nicht nur seinen unsäglichen (auf seine Figur bezogenen) Namen, sondern
auch seine Situation zu ändern, sollte dieses Buch lesen. Es gibt immer zwei
Seiten im Leben. Die Entscheidung, welche Richtung man einschlägt, trifft man
selbst.
Der Roman hat mich mehr als angenehm überrascht und ich kann ihn nicht nur
meiner Nichte beruhigt empfehlen. Er ist spannend, trotzdem unaufgeregt leise.
Wirkt lebensnah echt, macht nachdenklich und erinnert daran, welchen Einfluss
unser Handeln (oder Nichthandeln) auf das Leben anderer hat.
Vorgeschlagen von Ati
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veröffentlicht am 30. Januar 2013 2013-01-30 15:45:29