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Christopher Clark: The Sleepwalkers

The Sleepwalkers

von Christopher Clark
Verlag: Penguin Books [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-0-7139-9942-6

Preis: 37,81 Euro bei Amazon.de [Stand: 20. November 2024]
Das hochgelobte Werk von Christopher Clark, als Preußen-Historiker von Rang ausgewiesen, habe ich gelesen und bin enttäuscht. Meines Erachtens entspricht es nicht dem Stand der Forschung. Clark richtet den Blickwinkel seiner Betrachtung auf die innenpolitische Entwicklung Serbiens. Das Attentat von Sarajewo, von serbischen Nationalisten 1914 verübt, vergleicht er mit dem Attentat des 11. September 2001. Die Spaltung der Blöcke in Europa seit etwa 1900 habe dazu beigetragen, dass die Spannungen zwischen Österreich-Ungarn, gestützt von Deutschland auf der einen Seite, und Frankreich, Rußland und England auf der anderen Seite nicht hätten abgebaut werden können. Kaiser Wilhelm II. sei bis zum Ausbruch des Krieges friedliebend gewesen und habe einen Konflikt verhindern wollen. Die Hauptthese des Werkes "versteckt" Clark an das Ende des Buches: "The outbreak of war in 1914 is not an Agatha Christie drama at the end of which we will discover the cluprit standing over a corpse in the conservatory with a smoking pistol. There is no smoking gun in this story; or, rather, there is one in the hands of every major charakter. Viewed in this light, the outbreak of war was a tragedy, not a crime. Acknowledging this does not mean that we should minimize the belligerence and imperialist paranoia of the Austrian and German policy-makers that rightly absorbed the attention of Fritz Fischer and his historiographical allies. But the Germans were not the only imperialists and not the only ones to succumb to paranoia. The crisis that brought war in 1914 was the fruit of a shares political culture. But it was also multipolar and genuinely interactive - that is what makes it the most complex event of modern times..." (S. 561).

Schön und gut. Doch wenn man die Juli-Krise von 1914 betrachtet, so ist festzustellen, dass es sehr wohl Hauptschuldige an dem Ausbruch der Krise gibt. Fehleinschätzungen und Fehlperzeptionen gab es im Verlauf der Krise immer wieder, besonders aber in der deutschen Reichsleitung (vgl. etwa: Richard Ned Lebow: Kognitive Blockierung und Krisenpolitik: Deutsche Entscheidungsträger im Juli 1914 in: Kriegsursachen, Suhrkamp-Verl., 1987).

Worin lag die Hauptursache für das Scheitern diplomatischer Bemühungen in der Juli-Krise? "Die ausschlaggebende Ursache...ist in der deutschen Reichspolitik im Juli 1914 zu finden. Gewiß hat Österreich-Ungarn den Krieg an Serbien durch das Ultimatum vom 23. Juli und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen (25. Juli) vorbereitet, mit der Kriegserklärung (28. Juli) und der Beschießung Belgrads (29. Juli) auch eröffnet. Tatsächlich wäre der Krieg gegen Serbien aber ohne die Zustimmung des mächtigen Partners im Dreibund, des Deutschen Reichs, nicht möglich gewesen. Zwar herrschte in Wien nach dem Mord von Sarajewo eine erhitzte Stimmung, die zuöm Krieg drängte, aber alle Verantwortlichen, sogar der kriegerische Conrad, waren bereit, ihre letzte Entscheidung vom deutschen Votum abhängig zu machen. Erst nach der deutschen Zusage, das österreichische Vorgehen notfalls auch gegen Rußland abzudecken, erst nach dem deutschen Drängen, möglichst rasch gegen Serien vorzugehen, entschlossen sich die Österreicher, wenn auch noch mit innerem Zögern, für den Krieg gegen Serbien." (Quelle: Juli 1914 / hrsg. von Immanuel Geis, 1965, S. 374). Die deutsche Reichsleitung, auch Kaiser Wilhelm II., unterschätzten - wenn man Richard Ned Lebow glaubt - die Möglichkeit eines russischen Eingreifens zugunsten Serbiens, weil die Reichsleitung glaubte, Rußland werde - wie bei der bosnischen Annexionskrise 1908 - klein beigeben. Außerdem dachte insbesondere Wilhelm II., England werde neutral bleiben und nicht in den Krieg eingreifen. Letztlich hat aber sein "Politikstil" ein gerüttelt Maß an "Mitverantwortung", wie es Lebow zu recht formuliert, am Kriegsausbruch: "Seit seiner Thronbesteigung hatte er wiederholt versucht, Frankreich und Rußland zu demütigen, und er hatte England herausgefordert, indem er unsinnigerweise dessen Überlegenheit zur See infrage gestellt hatte. Mehr noch als seine Politik hatten Wilhelms aggressive Reden Deutschlands Nachbarn dazu gebracht, ihre Streitigkeiten untereinander zu begraben und sich zusammenzuschließen, um sich zu schützen. Im Verlauf der Krise selbst hatte der Kaiser Österreich freie Hand gegeben und alle englischen Vermittlungsangebote verschmäht." (Richard Ned Lebow in: Kriegsursachen, S. 228).

Clark relativiert diese historisch bekannten Tatsachen in seinem Buch und mach Wilhelm II. - wie schon in seiner Biographie über den deutschen Kaiser - m.E. ungerechtfertigter Weise zum Opfer. Haupt"täter" sind die serbischen Nationalisten, auf die der Focus der Darstellung in Kapitel 1: "Serbian Ghosts" ruht. Immanuel Geis hatte bereits in einem 1978 publizierten Aufsatz die feindselige deutsche Politik gegenüber Serbien nachgezeichnet ("Die deutsche Politik gegenüber Serbien in der Julikrise 1914" in: Immanuel Geis: Das deutsche Reich und die Vorgeschichte des ersten Weltkrieges, 1978). Hier heißt es: "Die deutsche Reichspolitik in der Julikrise nimmt sich daher wie eine konsequente Fortsetzung des seit dem Herbst 1913 eingeschlagenen deutschen Leitmotivs aus: Serbien bedroht mit seiner Agitation gegen Österreich-Ungarn Ruhe und Ordnung, die nur durch eine Art Polizeiaktion wieder hergestellt werden können." (ebd., S. 175). Genau dieser Linie folgt - unausgesprochen - Clark. Die serbischen Terroristen, die "serbischen Geister" haben Clark zufolge den Weltkrieg verursacht, weshalb er seine Betrachtungen auch konsequent mit diesem Kapitel und dem Sommer 1903, dem Königsmord an der Obrenovic-Dynastie von 1903, die er in allen schrecklichen Einzelheiten beschreibt, beginnen lässt.

Was ich Clark am meisten vorwerfe: Es ist leider auffällig, dass Clark das - durchaus problematische Verhalten Deutschlands und die Äußerungen des deutschen Kaisers, immer wieder verharmlost, nach dem Motto: die anderen haben doch provoziert, da kann eine "deutsche" Reaktion nicht ausbleiben. Es bestreitet niemand, dass auch andere Mächte am Ausbruch des ersten Weltkrieges mitschuldig waren. Dies hat sehr deutlich etwa Georges-Henri Soutou: Die Kriegsziele des Deutschen Reiches, Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkrieges: ein Vergleich" in: Der Erste Weltkrieg: Wirkung, Wahrnehmung, Analyse /hrsg. von Wolfgang Michalka, Seehammer Verl., 1999, S. 33 deutlich gemacht: "Die Alliierten waren vom Beginn des Krieges an wesentlich entschlossener, als lange Zeit zugegeben worden ist, die politische, militärische und wirtschaftliche Macht Deutschlands drastisch zu reduzieren." Die Frage bleibt aber: wo liegen Ursache und Wirkung? Die Ursache der - etwa von Clark festgestellten - "Verfestigung" der Bündnisse lag in Bülows Streben nach "einem Platz an der Sonne" und entsprechenden Äußerungen des Kaisers, der - nach Wolfgang J. Mommsen - zwar durchaus friedliebend und "nicht an allem Schuld" war, aber eben doch Interessen der preußisch-deutschenb Machteliten (so der Untertitel von Mommsens Buch von 2002) verkörperte.

Auf diese Verschärfung reagierten die Allierten und nicht umgekehrt, wie es Clark glauben machen will. Er verharmlost die "Abkehr von Bismarck", die Sebastian Haffner schon in seinem Werk: "Die sieben Todsünden des deutschen Reiches im ersten Weltkrieg" bilanziert hat. Nichts davon bei Clark. Frankreich, Serbien etc. haben provoziert, Deutschland in der Regel "reagiert"

Und dies ist meiner Meinung nach zu wenig. Sicherlich gibt es - im Gegensatz zum zweiten Weltkrieg - keine deutsche Alleinschuld. Aber Clark bagatellisiert - unter dem Eindruck der Empörung über das Attentat von Sarajewo - die Schuld Deutschlands und Österreich-Ungarns (dessen Ultimatum absichtlich so formuliert wurde, dass es für die serbische Regierung, die sich bereit erklärt hatte, die Attentäter zu verhaften und abzuurteilen, unannehmbar war) am Ausbruch des ersten Weltkrieges.
Fazit
Schade, ich hätte hier mehr von diesem großen Historiker erwartet. Mit seiner Deutung des ersten Weltkrieges (Tragödie, Katastrophe) fällt er meines Erachtens hinter den erreichten Forschungsstand zurück. Daher ist das Buch zwar durchaus gewinnbringend zu lesen, bringt m.E. aber die Forschung zu den Ursachen des 1. Weltkrieges nicht weiter. Als Kurzeinführung empfehle ich daher immer noch Volker Berghahn: Der erste Weltkrieg (Beck-Wissen, 2004) mit einer genauen Darstellung der Fehleinschätzungen und Eskalationen in der Juli-Krise 1914 und zu den tieferen Ursachen des 1. Weltkrieges. Außerdem immer wieder lesenswert, um die Vielfalt der Ursachen des Ersten Weltkrieges zu erfassen:
Stig Förster: "Im Reich des Absurden: Die Ursachen des Ersten Weltkrieges" in: Bernd Wegener (Hrsg.): Wie Kriege entstehen, 2000.)

Aufgrund der einseitigen Analyse der Kriegsursachen kann ich diesem Buch daher nicht mehr als 6 Sterne geben, obwohl die Forschungsleistung des Autors in Bezug auf die Motive der Entente-Mächte nicht abgestritten werden soll.
6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne
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Vorgeschlagen von Bernhard Nowak [Profil]
veröffentlicht am 07. Dezember 2012

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