Das hochgelobte Werk von Christopher Clark, als Preußen-Historiker von Rang
ausgewiesen, habe ich gelesen und bin enttäuscht. Meines Erachtens entspricht
es nicht dem Stand der Forschung. Clark richtet den Blickwinkel seiner
Betrachtung auf die innenpolitische Entwicklung Serbiens. Das Attentat von
Sarajewo, von serbischen Nationalisten 1914 verübt, vergleicht er mit dem
Attentat des 11. September 2001. Die Spaltung der Blöcke in Europa seit etwa
1900 habe dazu beigetragen, dass die Spannungen zwischen Österreich-Ungarn,
gestützt von Deutschland auf der einen Seite, und Frankreich, Rußland und
England auf der anderen Seite nicht hätten abgebaut werden können. Kaiser
Wilhelm II. sei bis zum Ausbruch des Krieges friedliebend gewesen und habe einen
Konflikt verhindern wollen. Die Hauptthese des Werkes "versteckt"
Clark an das Ende des Buches: "The outbreak of war in 1914 is not an Agatha
Christie drama at the end of which we will discover the cluprit standing over a
corpse in the conservatory with a smoking pistol. There is no smoking gun in
this story; or, rather, there is one in the hands of every major charakter.
Viewed in this light, the outbreak of war was a tragedy, not a crime.
Acknowledging this does not mean that we should minimize the belligerence and
imperialist paranoia of the Austrian and German policy-makers that rightly
absorbed the attention of Fritz Fischer and his historiographical allies. But
the Germans were not the only imperialists and not the only ones to succumb to
paranoia. The crisis that brought war in 1914 was the fruit of a shares
political culture. But it was also multipolar and genuinely interactive - that
is what makes it the most complex event of modern times..." (S. 561).
Schön und gut. Doch wenn man die Juli-Krise von 1914 betrachtet, so ist
festzustellen, dass es sehr wohl Hauptschuldige an dem Ausbruch der Krise gibt.
Fehleinschätzungen und Fehlperzeptionen gab es im Verlauf der Krise immer
wieder, besonders aber in der deutschen Reichsleitung (vgl. etwa: Richard Ned
Lebow: Kognitive Blockierung und Krisenpolitik: Deutsche Entscheidungsträger im
Juli 1914 in: Kriegsursachen, Suhrkamp-Verl., 1987).
Worin lag die Hauptursache für das Scheitern diplomatischer Bemühungen in der
Juli-Krise? "Die ausschlaggebende Ursache...ist in der deutschen
Reichspolitik im Juli 1914 zu finden. Gewiß hat Österreich-Ungarn den Krieg an
Serbien durch das Ultimatum vom 23. Juli und den Abbruch der diplomatischen
Beziehungen (25. Juli) vorbereitet, mit der Kriegserklärung (28. Juli) und der
Beschießung Belgrads (29. Juli) auch eröffnet. Tatsächlich wäre der Krieg
gegen Serbien aber ohne die Zustimmung des mächtigen Partners im Dreibund, des
Deutschen Reichs, nicht möglich gewesen. Zwar herrschte in Wien nach dem Mord
von Sarajewo eine erhitzte Stimmung, die zuöm Krieg drängte, aber alle
Verantwortlichen, sogar der kriegerische Conrad, waren bereit, ihre letzte
Entscheidung vom deutschen Votum abhängig zu machen. Erst nach der deutschen
Zusage, das österreichische Vorgehen notfalls auch gegen Rußland abzudecken,
erst nach dem deutschen Drängen, möglichst rasch gegen Serien vorzugehen,
entschlossen sich die Österreicher, wenn auch noch mit innerem Zögern, für
den Krieg gegen Serbien." (Quelle: Juli 1914 / hrsg. von Immanuel Geis,
1965, S. 374). Die deutsche Reichsleitung, auch Kaiser Wilhelm II.,
unterschätzten - wenn man Richard Ned Lebow glaubt - die Möglichkeit eines
russischen Eingreifens zugunsten Serbiens, weil die Reichsleitung glaubte,
Rußland werde - wie bei der bosnischen Annexionskrise 1908 - klein beigeben.
Außerdem dachte insbesondere Wilhelm II., England werde neutral bleiben und
nicht in den Krieg eingreifen. Letztlich hat aber sein "Politikstil"
ein gerüttelt Maß an "Mitverantwortung", wie es Lebow zu recht
formuliert, am Kriegsausbruch: "Seit seiner Thronbesteigung hatte er
wiederholt versucht, Frankreich und Rußland zu demütigen, und er hatte England
herausgefordert, indem er unsinnigerweise dessen Überlegenheit zur See infrage
gestellt hatte. Mehr noch als seine Politik hatten Wilhelms aggressive Reden
Deutschlands Nachbarn dazu gebracht, ihre Streitigkeiten untereinander zu
begraben und sich zusammenzuschließen, um sich zu schützen. Im Verlauf der
Krise selbst hatte der Kaiser Österreich freie Hand gegeben und alle englischen
Vermittlungsangebote verschmäht." (Richard Ned Lebow in: Kriegsursachen,
S. 228).
Clark relativiert diese historisch bekannten Tatsachen in seinem Buch und mach
Wilhelm II. - wie schon in seiner Biographie über den deutschen Kaiser - m.E.
ungerechtfertigter Weise zum Opfer. Haupt"täter" sind die serbischen
Nationalisten, auf die der Focus der Darstellung in Kapitel 1: "Serbian
Ghosts" ruht. Immanuel Geis hatte bereits in einem 1978 publizierten
Aufsatz die feindselige deutsche Politik gegenüber Serbien nachgezeichnet
("Die deutsche Politik gegenüber Serbien in der Julikrise 1914" in:
Immanuel Geis: Das deutsche Reich und die Vorgeschichte des ersten Weltkrieges,
1978). Hier heißt es: "Die deutsche Reichspolitik in der Julikrise nimmt
sich daher wie eine konsequente Fortsetzung des seit dem Herbst 1913
eingeschlagenen deutschen Leitmotivs aus: Serbien bedroht mit seiner Agitation
gegen Österreich-Ungarn Ruhe und Ordnung, die nur durch eine Art Polizeiaktion
wieder hergestellt werden können." (ebd., S. 175). Genau dieser Linie
folgt - unausgesprochen - Clark. Die serbischen Terroristen, die
"serbischen Geister" haben Clark zufolge den Weltkrieg verursacht,
weshalb er seine Betrachtungen auch konsequent mit diesem Kapitel und dem Sommer
1903, dem Königsmord an der Obrenovic-Dynastie von 1903, die er in allen
schrecklichen Einzelheiten beschreibt, beginnen lässt.
Was ich Clark am meisten vorwerfe: Es ist leider auffällig, dass Clark das -
durchaus problematische Verhalten Deutschlands und die Äußerungen des
deutschen Kaisers, immer wieder verharmlost, nach dem Motto: die anderen haben
doch provoziert, da kann eine "deutsche" Reaktion nicht ausbleiben. Es
bestreitet niemand, dass auch andere Mächte am Ausbruch des ersten Weltkrieges
mitschuldig waren. Dies hat sehr deutlich etwa Georges-Henri Soutou: Die
Kriegsziele des Deutschen Reiches, Frankreichs, Großbritanniens und der
Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkrieges: ein Vergleich" in: Der
Erste Weltkrieg: Wirkung, Wahrnehmung, Analyse /hrsg. von Wolfgang Michalka,
Seehammer Verl., 1999, S. 33 deutlich gemacht: "Die Alliierten waren vom
Beginn des Krieges an wesentlich entschlossener, als lange Zeit zugegeben worden
ist, die politische, militärische und wirtschaftliche Macht Deutschlands
drastisch zu reduzieren." Die Frage bleibt aber: wo liegen Ursache und
Wirkung? Die Ursache der - etwa von Clark festgestellten -
"Verfestigung" der Bündnisse lag in Bülows Streben nach "einem
Platz an der Sonne" und entsprechenden Äußerungen des Kaisers, der - nach
Wolfgang J. Mommsen - zwar durchaus friedliebend und "nicht an allem
Schuld" war, aber eben doch Interessen der preußisch-deutschenb
Machteliten (so der Untertitel von Mommsens Buch von 2002) verkörperte.
Auf diese Verschärfung reagierten die Allierten und nicht umgekehrt, wie es
Clark glauben machen will. Er verharmlost die "Abkehr von Bismarck",
die Sebastian Haffner schon in seinem Werk: "Die sieben Todsünden des
deutschen Reiches im ersten Weltkrieg" bilanziert hat. Nichts davon bei
Clark. Frankreich, Serbien etc. haben provoziert, Deutschland in der Regel
"reagiert"
Und dies ist meiner Meinung nach zu wenig. Sicherlich gibt es - im Gegensatz zum
zweiten Weltkrieg - keine deutsche Alleinschuld. Aber Clark bagatellisiert -
unter dem Eindruck der Empörung über das Attentat von Sarajewo - die Schuld
Deutschlands und Österreich-Ungarns (dessen Ultimatum absichtlich so formuliert
wurde, dass es für die serbische Regierung, die sich bereit erklärt hatte, die
Attentäter zu verhaften und abzuurteilen, unannehmbar war) am Ausbruch des
ersten Weltkrieges.
Fazit
Schade, ich hätte hier mehr von diesem großen Historiker erwartet. Mit seiner
Deutung des ersten Weltkrieges (Tragödie, Katastrophe) fällt er meines
Erachtens hinter den erreichten Forschungsstand zurück. Daher ist das Buch zwar
durchaus gewinnbringend zu lesen, bringt m.E. aber die Forschung zu den Ursachen
des 1. Weltkrieges nicht weiter. Als Kurzeinführung empfehle ich daher immer
noch Volker Berghahn: Der erste Weltkrieg (Beck-Wissen, 2004) mit einer genauen
Darstellung der Fehleinschätzungen und Eskalationen in der Juli-Krise 1914 und
zu den tieferen Ursachen des 1. Weltkrieges. Außerdem immer wieder lesenswert,
um die Vielfalt der Ursachen des Ersten Weltkrieges zu erfassen:
Stig Förster: "Im Reich des Absurden: Die Ursachen des Ersten
Weltkrieges" in: Bernd Wegener (Hrsg.): Wie Kriege entstehen, 2000.)
Aufgrund der einseitigen Analyse der Kriegsursachen kann ich diesem Buch daher
nicht mehr als 6 Sterne geben, obwohl die Forschungsleistung des Autors in Bezug
auf die Motive der Entente-Mächte nicht abgestritten werden soll.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 07. Dezember 2012 2012-12-07 13:29:37