Intelligenter Thriller
Was kommt heraus, wenn ein Autor souverän in der virtuellen Welt sich zu Hause
fühlt und diese überaus verständlich darstellen kann, ohne die "reale
"Welt zu vernachlässigen? Ein Autor, der zudem die Kunst des Relativsatzes
und der umfassenden Beschreibung von Orten, Personen und Ereignissen souverän
beherrscht? Der fast nebenbei noch eine ganze, virtuelle Spielwelt in allen
Details erfindet (wenn auch mit Ähnlichkeiten verbreiteten Online
Rollenspielen) und diese mit der realen Welt samt Kreditkartenbetrug und
islamischen Attentätern kunstvoll verknüpft? Der zudem davon Abstand nimmt,
die Gefühle seiner Protagonisten ausführlich zu "erzählen", sondern
der beständig den Leser mit in Situationen hinein nimmt, in denen die
(gedachten) Gefühle beim Leser "erzeugt" werden?
Eben dieser intelligente, breite, dabei zugleich tiefgehende neue Thriller von
Neal Stephenson.
Ein Thriller aus vielen Perspektiven und auf mehreren Ebenen, dessen roter Faden
die Entführung von Zula, der Nichte Richards Forthrast ist. Richard, der stets
eigene Wege ginge und dabei nicht immer auf Legalität achtete. Sehr
einträgliche Wege. Lange her, denn nun befindet er sich seit Jahren auf der
"offiziellen" Seite des Rechtes. Ebenso erfolgreich. Der über sein
Online-Rollenspiel "T'Rain" schwer reich geworden ist. Ein
Rollenspiel, wie es die Welt vorher noch nicht gesehen hat. Mit Millionen Usern
und enormen Suchtpotential. Mit Algorithmen, welche die Erde deckungsgleich
nachbilden, mit Bodenschätzen, die gefunden und geschürft werden müssen, will
man in dieser Welt bestehen.
Und mit einer (nur eingeweihten Mitspielern) Schnittstelle zur realen Welt. Als
ehemaliger "WoW"-Süchtiger kennt sich Reichard bestens aus mit Sucht
und eben Geld.. Bei T'Rain können die "faulen", reichen Spieler
Ausrüstung, Avatare und anderes erwerben und "fleißige"
Profispieler, vornehmlich in China, spielen nur, um all die erstellen und
verkaufen zu können. Gold und ihre Schätze können im Spiel in Wechselstuben
eingetauscht werden der Gegenwert real dem eigenen Konto gutschreiben werden.
Insgesamt einerseits eine unglaublich komplexes Spiel allererster Güte,
andererseits ein "Devisenumschlagplatz" mit hohem Ertrag.
Eine Störung liegt vor. Ein Virus legt Rechner von Spielern lahm, eine
bestimmte Menge an Gold soll im Spiel an einen bestimmen Ort gebracht werden, um
den realen Virus unschädlich zu machen. Nur, dass ein Speicherstick mit
kriminellen Daten von Kreditkarten den Virus eingefangen hat und Iwanow, der
Auftraggeber des Datendiebstahls keinen Spaß verstehen. Als es nicht gelingt,
das "Lösegeld" im Spiel abzuliefern, machen sich dieser mit drei
gekidnappten Personen auf nach China, um die Programmierer des Virus persönlich
"zur Rede zu stellen". Unter den drei gefangenen Personen befindet
sich eher zufällig Zula, Die Nichte Richards. In China selbst versucht Zula,
die Programmierer des Virus zu schützen und sticht dabei in ein Wespennest
islamischer Terroristen. Was viele Tote nach sich zieht und sie selbst in
höchste Gefahr bringen wird. Während Wichard fieberhaft versucht, Zula zu
retten.
Womit der Inhalt des Thrillers letztlich nur ungenügend beschrieben ist im
Blick auf die Vielfalt der Personen, Perspektiven und der Handlungsstränge, die
Stephenson um diese Grundgeschichte herum detailliert und tief auslotend
"beistellt". In einer ständig präsenten "Echtzeit", die er
untereinander und ineinander verschiebt.
Ein Wechsel der Perspektiven unter anderem, der einen seiner Höhepunkte in dem
Augenblick findet, in dem die Terrorzelle den russischen Kriminellen
(Ex-Elitesoldaten) gegenübersteht. Aus 4, 5, 6 Perspektiven heraus schildert
Stephenson über Seiten hinweg mit fließenden Übergängen die Ereignisse
dieses Kampfes, so dass in "Echtzeit" ein Blick aus diversen
Perspektiven beeindruckend zu einem großen Ganzen zusammenfließt.
Und das alles in ständig komplexer Sprache. "Pageturner" kann so
nicht als Kategorie für dieses Buch gewählt werden, eher ein
"Satz-Turner", denn schnell lesen kann man die vielfach kleinteilige
und detailreiche Darstellung von Ereignissen und Personen nicht. Und überlesen
kann man vielfach ebenso nicht, da ständig Informationen mitschwingen, die für
das Verständnis des großen Ganzen wichtig sind.
Ein stückweit vielleicht zu kleinteilig und zu lang ist dieser Thriller
geraten, gerade im mittleren, zweiten Teil des Buches geraten die Ereignisse in
Xiamen doch sehr ausufernd. Wobei Stephenson hier allein schon mit seinem
"Einblick" in das chinesische Alltagsleben zu interessieren weiß.
Was eben die Konzeption des Thrillers, die Atmosphäre und die Echtheit von
Handlung und erwähnter virtueller Welt im Buch angeht, lässt Stephenson kaum
Wünsche an eine hervorragende Geschichte offen. Ebenso, wie sein zusätzliches
Grundthema der Verflechtung von realer und virtueller Welt hervorragend im Lauf
der Geschichte mit zur Geltung kommt und auch sozilogische Entwicklungstendenzen
im Buch durch das Spiel wie nebenbei noch mitgestreift werden.
Fazit
Das Buch lebt nicht von "knisternder Spannung" oder "atemlosen
Thrill", wohl aber von Klugheit und hoher Durchdachtheit der Personen und
Ereignisse, vom Autor des Rollenspiels bis zum Führer der Terrorzelle, von der
englischen Geheimagentin bis zum melancholischem Ex-Speznaz Kämpfer, bis hin
natürlich zu den tragenden Hauptfiguren der Geschichte und deren geographischem
und persönlichem Umfeld. Auch wenn nicht alles immer ganz stimmig ist und hier
und da konstruiert wirkt, sprachlich und im Ablauf bietet das Buch beste
Unterhaltung.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 07. November 2012 2012-11-07 14:32:33