"Platon in Bagdad" ist ein kultureller Reiseführer, doch führt der
(keineswegs unpassende) Titel etwas in die Irre. Der in Istanbul lebende
Wissenschaftshistoriker Freely schildert darin nicht nur, wie im frühen
Mittelalter das Wissen der griechischen Antike in den arabischen Raum gelangte,
sondern berichtet ebenfalls (wenngleich teils sehr knapp) über die
ursprünglichen antiken griechischen Gelehrten. Anschließend wird ein
gewaltiger kultureller "Wissenstransfer" geschildert. Nicht zuletzt
vermittelt durch christliche Autoren, erhielten die im 7. und 8. Jahrhundert
militärisch erfolgreich agierenden muslimischen Araber Einblick in die Welt des
antiken griechischen Wissens. Dieses ging am Ende der Spätantike im Westen zwar
weitgehend verloren, wurde aber im Byzantinischen Reich und sogar im
sasanidischen Persien bewahrt. Nachdem die muslimischen Araber weite Teile des
christlichen Orients sowie Persien erobert hatten, begannen sie sich näher mit
dem griechischen Kulturerbe zu beschäftigen. Texte wurden ins Arabische
übersetzt und später auch kommentiert. Sie gaben den Anstoß für
selbstständige Überlegungen und Traktate arabischer Gelehrter.
Freely beschreibt in 18 Kapiteln anschaulich diese Entwicklung, beginnend im
antiken Griechenland, über die Spätantike und Byzanz sowie die spätere
kulturelle Hochblüte im abbasidischen Kalifat von Bagdad. Im Westen lange
verlorenes Wissen gelangte über Umwege, so aus Byzanz und der arabischen Welt,
erst später wieder in das lateinische Europa. Nicht selten dienten arabische
Autoren und Kommentatoren als Vermittler, deren Texte auch teilweise übersetzt
wurden. Griechisches Wissen erreichte nun den Westen. Im Spätmittelalter wurde
im lateinischen Europa wieder verstärkt Aristoteles gelesen und kommentiert.
Eine kulturelle Befruchtung, die noch lange nachwirkte, bis in die beginnende
Neuzeit und zu Kopernikus und Newton. Im islamischen Raum hingegen folgte auf
eine Glanzzeit des wissenschaftlichen und kulturellen Aufbruchs schließlich
eine Art Abenddämmerung.
Fazit
Freely erhebt nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Handbuchdarstellung,
so dass die Belege auch recht rudimentär sind. Einige Flüchtigkeitsfehler
haben sich zudem eingeschlichen. Theophilos von Edessa z. B., ein berühmter
christlicher Gelehrter, Astrologe und Geschichtsschreiber, der am Hof des
Kalifen in Bagdad wirkte, starb 785, nicht 789 (S. 101). Leider wird er ebenso
wie manch anderer Autor nur am Rande von Freely erwähnt, doch stellt dies auch
kein Handbuch dar. Überhaupt mag die relativ knappe Aufzählung zahlreicher
Gelehrter auf den Laien abschreckend wirken. Freelys Stil ist aber flüssig und
seine Darstellung informativ. Sie stellt schon für sich einen Gewinn dar, denn
zwar ist der hier beschriebene Kulturtransfer in der historischen Wissenschaft
lange bekannt und wird auch untersucht (zu nennen ist neben anderen z. B.
Dimitri Gutas), aber es ist in der Breite der Bevölkerung eher unbekannt. Die
guten Verkaufszahlen des vorliegenden Buches lassen hoffen, dass sich dies nun
zumindest zu einem kleinen Teil ändert.
Vorgeschlagen von B. Kiemerer
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veröffentlicht am 05. November 2012 2012-11-05 17:39:42