Das heruntergekommene Stadtviertel Clevelands, das Penelope in ihrer Freizeit
erkundet, wird Neverland genannt. Hier schlüpfen Jugendliche unter, die von
zu Hause abgehauen sind. Neverland wirkt wie ein dystopisches Narnia, von
Architekten wie Penelopes Vater früher einmal mit den besten Vorsätzen
geplant, in dem heute eigene Gesetze gelten. Für Mädchen wie Penelope ist
Neverland ein gefährliches Pflaster.
Zwänge bestimmen Penelopes Leben. An schlimmen Tagen geht sie erst gar nicht
zur Schule. Sie kann dann ihr Zimmer nicht verlassen, weil sie ihren Besitz
ständig neu anordnen muss. Dinge vermitteln Penelope Sicherheit, darum klaut
sie. Die Zahl Drei ist für das Mädchen eine perfekte Zahl. Penelopes Schritte
und die Anzahl der Bus-Haltestellen auf einer Strecke müssen durch drei
teilbar sein, damit sie sich sicher fühlen kann. Sonnabend ist ein perfekter
Tag; denn das Wort besteht aus drei Silben. Ein Mantel mit 8 Knöpfen geht gar
nicht. Auch magische Wörter helfen; dreimal aufs Hosenbein tippen und
"Banane" sagen, dann wird alles gut. Neunmal gegen die Wand treten
vertreibt die Monster aus Penelopes Kindheit. Eines der Monster ist das
Schicksal ihres Brudera Oren, das sie in Neverland aufklären will. Penelope hat
mit ihren Eltern schon in elf Städten gelebt und nirgends Wurzen schlagen
können. Nur weil ihre Mutter tablettenabhängig ihre Tage im Bett verbringt und
die Familie in jedem Schuljahr umgezogen ist, konnte Penelope ihre
Zwangserkrankung bisher anderen gegenüber tarnen. Seit Orens Verschwinden sind
die Zwänge schlimmer geworden und in der Schule fallen Penelope Ticks
allmählich auf.
In Neverland leben die Vergessenen und Übersehenen. Leer stehende Häuser
wirken wie geplündert. Bei Penelopes Suche nach Oren wird in Neverland auf sie
geschossen. Entsetzt stellt Penelope fest, dass in der Nähe ihrer Wege durch
Neverland ein Mord geschehen ist. Ein Schmetterling aus dem Besitz der
Ermordeten ist fortan Penelopes magischer Besitz und ihr Antrieb, mehr über
das getötete Mädchen Sapphire zu erfahren, das in einer Bar arbeitete. Auf
ihren Erkundungen Neverlands lernt Penelope Flynt kennen, der im Müll nach
Material für seine Kunstobjekte sucht. Flynt kennt sich im Milieu der Bars und
Bordelle aus, weil er Stripperinnen zeichnet. Das Zusammensein mit Flynt und
seinen alternativen Mitbewohnern wirkt befreiend auf Penelope. Mit Flynt und
seinen obdachlosen Freunden fühlt sie sich nicht mehr unnormal. Flynts
Warmherzigkeit tut Penelope gut, vernebelt aber auch ihre Wahrnehmung für die
Gefahren in Neverland. Mit ihrer Recherche über Sapphires Tod ist Penelope
ahnungslos zwischen die Fronten gerissener Geschäftsleute geraten. Ihre
Zwangshandlungen lassen sie so auffällig wie einen bunten Hund wirken. Flynt
findet Neverland zu gefährlich für ein Mädchen von draußen. Sollte Penelope
sich nicht besser um ihre Zwangsstörung kümmern, anstatt Sapphires Tod
aufzuklären?
Fazit
Penelope spielt in Neverland ein lebensgefährliches Detektivspiel, bis sie das
Rätsel um ihren verschwundenen Bruder lösen kann. Ihre Suche nach Sapphires
Mörder wirkt streckenweise wie ein Teil ihrer psychischen Erkrankung. Neben der
spannenden Thriller-Handlung, die Muster und Strukturen aufdeckt, steht
Penelopes Verhaltensauffälligkeit im Mittelpunkt des Buches. Beunruhigend, dass
bisher nur ihr Mathelehrer auf das zwanghafte Tippen und Zählen reagierte. Ohne
Hoffnung auf eine Therapie für Penelope ist ihr Zählzwang für die Leser des
Buches anstrengend. Warum Penelope bis zum Ende des Buches ihre Erkrankung
verbergen kann, schildert Kate Ellison sehr glaubwürdig. Die beeindruckende
Darstellung der Zwangsstörung und die wie eine geheime Botschaft wirkenden
märchenhaften Illustrationen fügen sich zu einem außergewöhnlichen
Jugendroman.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 01. Oktober 2012 2012-10-01 09:04:06