Als Tamara aus dem Schlaf aufschreckt, steht der Zug irgendwo bei Schwäbisch
Gmünd auf freier Strecke. Tamara ist völlig allein; die Zug-Türen sind
verschlossen, persönliche Gegenstände der Reisenden liegen noch im Zug. Es
ist, als hätten alle Menschen sich in Luft aufgelöst. Aufgrund eines Tipps,
den sie bei der Suche nach ihren leiblichen Eltern erhielt, kommt Tamara aus
Mecklenburg zu einem Treffen mit der ihr noch unbekannten Kora. Entschlossen
marschiert Tamara auf den Gleisen weiter. Im Bahnhof von Mannheim trifft sie auf
Alissa und ihren Bruder Leo, denen etwas ähnliches passiert ist wie ihr. Beim
Zelten auf einer naturgeschützten Rhein-Insel sind plötzlich die Freunde der
Geschwister verschwunden. Die Zeit scheint an diesem heißen Augustnachmittag
stehen geblieben zu sein, wie Leo, der gern fotografiert, aus dem unveränderten
Stand der Sonne ableitet. Alissa und Leo fuhren durch eine menschenleere Stadt
zum Bahnhof, draußen vor den verlassenen, unverschlossenen Geschäften lagen
noch die Waren. Hannes, der Horrorgeschichten liebt, wurde durch eine
geheimnisvolle Nachricht alarmiert. Die vier Jugendlichen treffen auf Kora, die
in der Justizvollzugsanstalt Schwäbisch Gmünd gerade einer apokalyptischen
Situation entkommen ist. Das Mädchen musste sich in einem menschenleeren
Gebäudekomplex gegen eine Nebelwand zur Wehr setzen, von der sie wie von einem
Lebewesen angegriffen wurde. Ein Brief hatte Kora mit einer verschlüsselten
Botschaft ausdrücklich vor diesem Nebel gewarnt. Jugendliche erhielten an
unterschiedlichen Orten alarmierende Botschaften; ein merkwürdiges
Naturereignis war zu beobachten. Die Fünf sind im Moment offenbar die einzigen
Menschen - auf der Suche nach der Verbindung zwischen sich und dem aggressiven
Nebel.
Bei Kora, die im ersten Kapitel des Buches auftritt, war schnell klar, dass ihr
persönlicher Dämon sich zunächst in ihrer Abneigung gegen den Einschluss in
der Zelle zeigt, wenn der Raum um sie und ihre Zellengenossin herum
"spannt". Doch der tiefere Grund für Koras traumatisches Erlebnis im
Nebel bleibt bis kurz vor Schluss des Buches verborgen. Die Lösung mit der
Erkenntnis der Jugendlichen, dass ihre Stärke in ihrer Verschiedenheit und
ihrer gegenseitigen Offenheit liegt, kommt für Leser des Romans sehr spät.
Antje Wagner stellt hohe Ansprüche an Aufmerksamkeit und Kombinationsfähigkeit
ihres Publikums. Wie in
Unland bricht die Autorin mit
lieben Lesegewohnheiten. Sie inszeniert geschickt das Zusammenfinden von
Personen, die sich nie zuvor getroffen haben, und kleidet die Kluft zwischen
deren Bewusstsein und Unterbewusstsein mit unheimlichen Erlebnissen aus.
Fazit
"Vakuum" ist ein ungewöhnlicher Roman, von dem Leser sich
unvoreingenommen überraschen lassen sollten. Mit seinen feinen Tönen und
Gefühlswahrnehmungen entzieht sich das Buch der schnellen Zuordnung zu Genre
oder Zielgruppe. Die Handlung wird mit Sicherheit im Unterricht oder unter
Literaturliebhabern für Diskussionsstoff sorgen. Antje Wagner zeigt sich erneut
als Meisterin in der Charakterisierung eigenwilliger Figuren mit einem Hang zu
burschikosen Mädchenfiguren. Die Figur der Alissa, vernünftige ältere
Schwester und von Fremden stets für zuständig gehalten, finde ich in Vakuum
besonders gelungen. Hervorzuheben sind Wagners sorgfältige Recherche, z. B. im
Gefängnismilieu, wie auch ihr Humor, der sich auf leisen Sohlen heranschleicht.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 18. September 2012 2012-09-18 09:06:55