Akademiker und "Leistungsträger" im dritten Reich
80 Hochschulabsolventen der verschiedensten Fachrichtungen und deren Lebenslauf
und Prägungen, der sie mit Überzeugung in die Reihen der SS und hier
vornehmlich des SD späterhin getragen hat und in dessen Dienst sie wesentliche
"Puzzlesteine" in der Gesamtmaschinerie des dritten Reiches
darstellten, bilden das "Rückrat" dieser breiten, fundierten und
umfassenden Geschichtsbetrachtung Christian Ingraos.
Wobei hier im engeren Sinne keine "Mehrfachbiographie" vorliegt und
die einzelnen Lebenswege auch nicht einfach nur nacherzählt werden. Ingrao hat
anderes vor und drückt dies auch von Beginn an aus. Er schlägt den Bogen
zurück in die Jugend und Studienjahre von Hitlers Akademiker Elite, zeigt vor
allem die enge Verbindung zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Erfahrungen
aus und des ersten Weltkriegs auf. Welche Erfahrungen im Aufwachsen haben diese
Menschen geprägt? Welche universitären Lehrer mit ihrer zeitgeprägten
Ideologie von "Raum" und "Boden" und "Rasse" und
Geschichts- und Rechtsverständnis haben ihre Ideen in den (vorbereiteten)
Köpfen der Studenten verankert? Welcher "Zeitgeist" hat diese
durchaus intelligenten und reflektionsfähigen Menschen geprägt, um ein solches
in sich logisches, von außen betrachtet aber grausames und menschenverachtendes
Ideologiegerüst sich festsetzen zu lassen.
Hochinteressant ist es, zu lesen, dass nicht nur die "große Politik",
sondern gerade auch die "vor Ort" oft verbundene "völkische
Bewegung" mit ihren Anklängen der Romantik und ihrer Gewaltbereitschaft
gegen alles "Artfremde", dem man in Deutschland nach Ende des ersten
Weltkrieges sich zähneknirschend hat beugen müssen hier fast der wichtigste
Nährboden für darauf aufbauende, verdrehte Argumentationsketten war.
So legt Ingrao zunächst die "Erfahrungsgeschichte" dieser
stellvertretenden Biographien vor, zeigt den Weg in die SS auf, vollzieht von
den ersten Überlegungen an die Entstehung des SD als umfassenden
Nachrichtendienst dar und lässt den Leser nachvollziehbar Einblick nehmen in
die innere sich entfaltende Gedankenwelt dieser "Elite" und ihrer
Verbindungen und gegenseitigen Beeinflussungen untereinander. Und auch den
Anpassungsdruck erwähnt er überzeugend, der nach und nach perfekt umgesetzt
allen gegenüber durch alle gegenüber im Raume stand.
Aus diesen Prägungen heraus mit ihren Folgen leitet Ingrao im Weiteren das
politische Handeln der Nationalsozialisten als "kulturelle Reaktion auf
diese frühe Erfahrung" ab.
Eindrucksvoll schildert er km Anschluss die grenzüberschreitende
"Umsetzung" des lange Jahre gereiften, verblendeten ideologischen
Gerüstes im Rahmen des Vormarsches der deutschen Armee im Osten. Wie die
perfide Logik sich in Massenmord umsetzte, wie die "hellen Köpfe" der
akademischen Elite eine Vernichtungsmaschinerie sondergleichen installierte,
ideologisch unterfütterte und praktisch am Laufen hielt.
Kurz erwähnt, ein durchaus sinnvoller Abschluss des Werkes, Ingrao zum Schluss
den Umgang seiner Betrachtungsgruppe mit der Niederlage und die juristischen
Urteile nach Ende des Krieges. Das Scheitern von Menschen, die wie Werner Brest
die Niederlage im ersten Weltkrieg von früh an schlichtweg ignorierten, die es
als "Träume meiner Jugend" bezeichneten, nicht "wie mein Vater
als Soldat für den deutschen Sieg kämpfen zu dürfen". Und die aus dieser
inneren Haltung nie herauswuchsen, die im Gegenteil durch ihr Umfeld, durch
Professoren, durch Verwandten- und Freundeskreis immer klarer und stärker in
diesem Gedankengeflecht sich verankerten.
Fazit
Christian Ingrao legt, trotz der manches Mal dürren Quellenlage, die ihm
auferlegt, Leerstellen durch Thesen zu füllen, ein überzeugend argumentiertes
und gut zu lesendes Geschichtswerk vor, in dem er breite Zusammenhänge
darstellt und anhand individueller Lebenslinien die "Kultur" einer
ganzen "Zwischenkriegszeit" fassbar in den Raum zu stellen vermag. Ein
"kultureller Geist" verbunden mit akademischen Prägungen, die ihre
ganze Kraft ihren Überzeugungen gemäß letztlich für eine
"Un-Kultur" zur Verfügung stellten und der Welt dafür einen hohen
Preis abverlangten. Ein wichtiges Buch trotz manchmal dürftiger Quellenlage und
dadurch doch des Arbeitens mit reinen Thesen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 30. Mai 2012 2012-05-30 15:05:53