Emotionale Tiefe
"Beim Laufen habe ich mich an so vieles erinnert. An Dinge, von denen ich
gar nicht wusste, dass ich sei vergessen hatte, Manche Erinnerungen waren hart.
Aber die meisten waren schön. Ich habe Angst, dass ich sie eines Tages,
vielleicht bald, wieder verliere". Nicht nur körperlich, auch emotional
zutiefst mitgenommen zeigt sich Harald Fry am Ende seines Fußmarsches von über
1000 Kilometern in 87 Tagen.
Er, der zu Beginn des Buches wirkte wie ein Teil einer typisch
auseinandergelebten, englisch distanzierten, Familie. Seine Frau Maureen und er
in getrennten Zimmern, nur das Nötigste wird gesagt, entfremdet auch von David,
dem Sohn, der nicht mehr zu Hause anzutreffen ist. Der nach 45 Jahren als
Handelsvertreter nun im nichtssagenden Ruhestand ist. Der sich vorwirft, Zeit
seines Lebens da, wo es nötig gewesen wäre, aus seiner inneren, emotionalen
Distanz, fast Starre nicht herausgekommen zu sein. Gerade in wichtigen Momenten
mit seinem Sohn David. Oder auch, als seine Mutter ihn und die Familie einfach
verließ.
Gedanken, die Harold zugeflogen kommen, als er sich, unvorbereitet und spontan,
auf den Weg macht. Eine alte Kollegin, seit 20 Jahren nicht mehr gesehen,
schreibt ihm einen Brief. Sie liegt im Sterben. Ein Mädchen an der Tankstelle,
kurz vor dem letzten Briefkasten des Ortes, erzählt von der Kraft des Glaubens
an Besserung. "Man muss daran glauben, dass ein Mensch wieder gesund werden
kann". So gibt Harold, ganz spontan, per Telefon dem Hospiz Bescheid, dass
er sich auf den Weg macht und Queenie mit ihrem Sterben warten soll. Er käme zu
Fuß.
Und Harold macht sich auf den Weg. In einfachen Segelschuhen, mit nur dem, was
er gerade dabei hat. Trifft auf Fremde, setzt Fuß vor Fuß. Mit jedem Schritt
scheint da auch etwas in ihm selber wieder zurecht gerückt zu werden.
Erinnerungen kommen, schamvolle, peinvolle, schöne Erinnerungen. Erinnerungen,
die er unter Schmerzen ansehen und verarbeiten muss. Und so erlebt der Leser an
der Hand der Autorin einen allmählichen Gang in die Tiefe eines Menschen und
seines Umfeldes und derer, denen er begegnet, der bald ahnen lässt, dass hier
Geheimnisse, wichtige Dinge noch vorliegen, die erst langsam an der Oberfläche
kratzen.
Kommt man zum Ende des Buches, schließt sich der Kreis, gelingt es Joyce, diese
eigentlichen Dinge unglaublich überraschend zu enthüllen. In einer Art und
Weise, die emotional tief berührt und fast sprachlos zurücklässt. Wie es ihr
überhaupt gelingt, Seite für Seite in wunderbarer und immer treffender Sprache
eine emotionale Erlebnisreise auf Papier zu bannen, die sich (auch das wieder
erst ganz am Ende) tatsächlich als eine echte Pilgerreise des Glaubens (ohne
jede Religiosität) darstellt. "Wenn er den Blick immer auf die Dinge
gerichtet hielt, die größer aren als er selbst, dann würde er es schaffen.
Ganz sicher".
Mit menschlichen Erkenntnissen, einer inneren Geschichten, mit Begegnungen, die
immer wieder, Seite für Seite, an die Grundfesten der Substanz der
Persönlichkeiten reichen. Genau beobachtetes Leben, aus dem Joyce ebenso
treffsicher die dahinter liegenden Emotionen zu beschreiben versteht, diese im
wahrsten Sinne des Wortes für den Leser erlebbar macht.
Was das Eigentliche ist, was Harold mit Queenie verbindet, was diese für ihn
getan hat, warum er sie nun unbedingt noch einmal sehen muss, was sein
eigentlicher, tiefer Schmerz ist, der ihn und seine Frau so voneinander getrennt
haben und wie sich er, aber auch seine Frau Maureen durch diesen Fußweg
entwickeln und verändern, innerlich wieder wie jung werden können, dies alles
führt Joyce sprachlich mit fast spielerischer Leichtigkeit vor Augen, ohne je
die Gefahr zu geraten, zuviel Pathos oder zu vordergründige Emotionen in den
Mittelpunkt zu stellen.
Harold geht einen langen Weg in einer durchaus langen Geschichte, die dennoch
keine Längen aufweist, bei der jede Seite und jedes Wort seinen Platz findet.
Und in der Rachel Joyce tatsächlich an die Substanz ihrer Figuren, die Substanz
der Dinge, die geschehen sind und letztendlich an die Substanz des Lebens selbst
geht. Wo der Tod nicht ausgespart wird, der Schmerz seinen Platz findet, die
Liebe alles begleitet (oft ohne ins Bewusstsein zu dringen) und das Leben sich
lösen darf auch in die eigene Nichtigkeit hinein. Bis dahin, dass man wirklich
daran glauben muss (und darf) dass ein Mensch sich in diesem Leben finden kann.
In all den Einrahmungen, Einbildungen, im eigenen Versagen und im Anblick
schmerzlicher Verluste, welche die eigene Schale hart machen.
Fazit
Dieses Buch verändert nicht die Welt, aber den, der es liest. Und nach der
Lektüre weiß man, dass Joyce nicht übertreibt. "Ich habe mein Herz in
diese Geschichte gelegt". Spürbar.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 14. Mai 2012 2012-05-14 14:41:36