Joanna Briscoe - Gefährliche Nähe
Obsessive Liebe und Leidenschaft
Sie ist wieder da. Cecilia ist heimgekehrt. Nun erwachsen mit ihrem Mann und
ihren Kindern. In diese entlegene Moorlandschaft in England, in der sie in den
siebziger Jahren aufwuchs und die ihr doch fremd war. Eine Zeit, ein Umfeld, die
ihrer eigentlichen Persönlichkeit nicht entsprach und in der es damals zu
dramatischen Ereignissen kam.
"Ihre Kindheit hätte unschuldig sein sollen". War sie aber nicht. Die
Eltern, dem Freigeist der Zeit angehörend, gründeten eine Art Künstlerkolonie
an diesem Ort. Bei Licht betrachtet einfach eine billige Absteige für
Aussteiger aller Art. Gesponsert mit von den vermögenden Eltern des Vaters
(eine Seite der Geschichte, die eine ausführlichere Darstellung auch in ihrer
inneren Bedeutung für das sogenannte "freie Leben" verdient gehabt
hätte). Die Mutter, Dora, ist Lehrerin an einer antiautoritär geführten
Schule, auf die ihre Kinder natürlich auch gehen. Schwierig für Cecilia, die
nichts mehr ersehnt als einen festen Rahmen, ein echtes Lernen.
Wenn da nicht James Dahl wäre. Der ernsthafte Englischlehrer. Nicht nur seinem
Unterricht, nicht nur seinem literarischen Wissen wird Cecilia verfallen,
sondern in einem Strudel der Gefühle und Leidenschaften sich wiederfinden, der
gravierende Folgen nach sich zieht. Schon auf den ersten Seiten wird deutlich,
dass es da einmal ein erstes Kind gegeben haben muss, ein Baby, "Mara"
nennt Cecilia dieses Kind, das irgendwie "abhanden" gekommen ist. Und
das sie nun immer noch sucht. Ihre Mutter Dora gehört dazu, die damals in
gleicher Weise sich verstrickte in eine intensive Liebesgeschichte. Mit
Elizabeth Dahl, der dominanten Frau des Englischlehrers.
So entspann sich damals ein dichtes Gespinst aus gegenseitigen und, vor allem,
heimlichen Verflechtungen, die bis in die Gegenwart ihre Spuren zieht, Cecilia,
die sich auf eine sexuelle Begegnung mit James Dahl zwischen Schülerin und
Lehrer einlässt, Dora, die ebenso körperlich intensiv die Nähe zu Elizabeth
Dahl sucht (und findet). Doch diese Lieben sind gefährlich. Auf ihre Weise, die
zu keiner wirklichen Nähe einerseits führten, aber auch zu keiner endgültigen
Lösung der Verhältnisse andererseits geführt haben. Anhand der beiden
Hauptpersonen Dora und Cecilia gelingt es Joanna Briscoe durchaus, diese
vielfältigen und widerstrebenden Entwicklungen, diese Sehnsucht nach Nähe und
die immerwährende Enttäuschung, die doch innere Distanz von Seiten der
"anderen Seite" her fassbar darzustellen und in ihren vielfachen
Differenzierungen auszuloten.
Andererseits fehlen dem Roman doch an manchen Stellen einfach Tempo und innere
Spannung. Zu vorhersehbar wind die Ereignisse, zu klar ist von Beginn an
eigentlich schon das Drama um Cecilia und um Dora. Beide werden in diesen
Gefühlen, denen sie fast ohnmächtig gegenüber stehen, keine Erfüllung
finden. Zudem bietet das "freie Leben" der
"Künstlerkolonie" zwar den Rahmen der im Buch erzählten Ereignisse,
bleibt aber doch mit zu wenig innerer Ausgestaltung versehen und so ebn nichts
mehr als ein Rahmen für die Geschichte der beiden schwierig liebenden Frauen.
Hier wäre ein Mehr an Darstellung und Intensität der Lebensweise auch
außerhalb der beiden Protagonistinnen wünschenswert gewesen.
Fazit
Alles in allem legt Joanna Briscoe eine intensiv und dicht geschilderte
Geschichte von Liebe, Leidenschaft, Nähe und Distanz vor, die das emotionale
Hin- und Her der Personen gut erfasst. Was die innere Spannung der Entwicklungen
angeht liegen die Ereignisse allerdings zu vorhersehbar vor, um wirklich zu
fesseln.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 09. Mai 2012 2012-05-09 11:36:42