Gestrige Erziehungsweisen, Ursachen und ihre Folgen
Es ist noch nicht allzu lange her (auch wenn es vorsintflutlich erscheint), da
gehörte der Rohrstock, der Gürtel, die flache Hand zur Kindererziehung ganz
selbstverständlich dazu. Nicht nur im Elternhaus, auch in den Schulen und
anderen Orten öffentlichen Lebens (die Diskussion um
"Erziehungsformen" in katholischen Kirchen, neben dem sexuellen
Missbrauch, zeigen auf, wie selbstverständlich und verbreitet es war, dass ein
Kind letztlich "Nichts" war). Ganz öffentlich an diesen Orten bis
weit in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein. Dass das Kind
"pariert" war (fast) einhellig und breit vorherrschendes
"Grunderziehungsziel", zumindest der 50er und 60er Jahre des letzten
Jahrhunderts. An nicht wenigen Orten, liest man die Berichte mancher
Jugendämter, hält sich dies um Übrigen im heimischen Bereich bis heute, nicht
nur in speziellen Migrationsfamilien.
Ingrid Müller-Münch versteht es, gerade auf ihre ihr eigene unprätentiöse
und dennoch eindeutig parteiische Art, diese Form der "Erziehung" für
die nun dem Ruhestand entgegengehende Generation endlich einmal sachlich und
präzise zu beschreiben und aufzuzeigen. Dem Geschehen eine "Sprache zu
geben". Und die nachfolgende Frage zu stellen und zu beantworten: Was diese
rüden Methoden bewirkten, wie es den später Erwachsenen mit dieser Art des
Aufwachsens erging. Ganz hervorragend arbeitet die Autorin auf diesem Weg
heraus, dass vor allem Gefühle von Angst und Einsamkeit, von einem "sich
nicht (wirklich) angenommen" wissen mit geprägt haben.
"Zu meiner Kindheit gehörte der Kochlöffel. Nicht als Küchenutensil,
sondern als Schlaginstrument". Wobei in vielen Familien diese
"Strafe" noch gesteigert und herausgezögert wurde durch jenen
wohlbekannten Satz: "Warte, bis Dein Vater nach Hause kommt". Väter
als "Familienoberhaupt" und damit als jene, die in der Regel die
Strafe zu vollziehen hatten. Aber auch Mütter oder ältere Geschwister waren an
dieser "Grunderziehung" beteiligt. Mit Folgen. "Irgendwie war
dieser Vertrauensbruch meiner Eltern, den ich bei jeder Tracht Prügel empfand,
nie mehr aus meinem Leben wegzudenken".
Es ist gut, noch einmal, trotz der inzwischen vielen vergangenen Jahre und der
doch im allgemeinen zumindest offiziell anderen Form der Erziehung, die
mittlerweile herrscht, dass Ingrid Müller-Münch die Dinge thematisiert, die
sie, wie fast alle anderen, bis dato nie wirklich angesprochen und ausgesprochen
haben. Gut vor allem, dass dies mit Sensibilität und nicht marktschreierisch
geschieht, dass eine Beschreibung und der Versuch, zu verstehen im Mittelpunkt
des Buches stehen. Gut auch, dass die Autorin durchaus vielfach persönliches
mit einfließen lässt und zudem die Linie nach hinten verlängert, einen Blick
auf die Kriegsgenerationen und deren Prägung ermöglicht, welche den Rohrstock
fast logischerweise nach sich zogen.
Mit einem Grundgefühl dann vielleicht leben zu müssen, wie es im Buch auch
beschrieben wird: "Keiner sieht mich, keiner mag mich, ich bin böse, ich
bin ein Nichts". Erfahrungen vor allem der Ohnmacht, die so manche
Aggressivität, die ein vielfaches Auflehnen dieser Generation gegen dumpfe
Autoritäten tief verständlich macht, gegen "Muff und Mief" laut zu
Felde ziehen. Ein hochinteressantes Kapitel ist es, in dem Müller-Münch jenen
Wurzeln der "68er" auf ihre Art nachgeht und überzeugende Schlüsse
aus den Prügeln der Kinderjahre dieser Generation zieht.
Fazit
Nach der Lektüre des Buches und dem Gang durch alle Schichten und alle Formen
von körperlicher Bestrafung kann man der Autorin nur uneingeschränkt
zustimmen, die das "Prügeln von Kindern zu Anschlägen gegen die
Menschlichkeit" deklariert. Etwas, was so manche Soziologen und kirchliche
Würdenträger bis jetzt noch nicht wirklich verstanden zu haben scheinen. Und
es stimmt, womit die Autorin endet: "Noch ist es nicht vorbei". Und
darum ist das Buch wichtig (und zudem gut zu lesen).
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 23. März 2012 2012-03-23 11:21:03