Unerklärliche Todesfälle
Man durfte gespannt sein, welchem Thema in welcher Form sich John Burnside nach
seinem fulminant erzählten, autobiographischem und emotional
düster-mitreißendem "Lügen über meinen Vater" und dem
verstörenden Roman "Gilster" zuwenden würde. Ganz anders nun
zunächst, soweit kann man zunächst sagen. Und doch sich treu bleibend in
seiner Kunst, in bildkräftiger Sprache emotionale Vieldeutigkeiten des Lebens
in ein verstörendes Portrait zu bannen.
Im hohen Norden Norwegens, auf einer Insel am Polarkreis, siedelt Burnside seine
Geschichte an und diese Geographie "am Rande der Welt", in einer
(überragend geschilderten) Landschaft wie direkt altnordischen Sagen entnommen,
ist wichtig für das Verständnis. Ein abgeschnittenes Stück Welt, in dem die
Uhren anders zu gehen scheinen, wie auch die Emotionen. Eine äußere
Abgeschnittenheit, die sich im Lauf des Romans auch innerlich in Figuren
spiegeln wird. Hier wartet die junge Liv, die mit ihrer Mutter, einer
Künstlerin, auf der Insel lebt, auf die Ergebnisse ihrer
Schulabschlussprüfungen. Und nun sterben junge Männer.
Zuerst Mats. Einfach so. Nimmt (scheinbar) das Boot des Nachbarn, fährt
(scheinbar) aufs ruhige Meer hinaus und wird tot wieder angespült. Zuletzt
hatte Liv Mats mit dessen jüngerem Bruder Harald in Begleitung einer
Mitschülerin, Maia gesehen. Eine Art des Umgangs lag zwischen diesen drei, die
Liv ein mehr als nur Bekanntschaft ahnen lässt. Auch Harald stirbt. 10 Tage
später. Mit genau dem gleichen Boot des Nachbarn war er ebenso aufs ruhige Meer
hinaus gefahren und ist ertrunken.
Ereignisse, Todesfälle, die merkwürdigerweise gar keine große Aufregung bei
den Bewohnern der Insel hervorrufen. Was Wunder, das Liv sich mehr und mehr von
den alten Erzählungen des alten Kyrre einnehmen lässt. Hexenerzählungen,
Geistergeschichten, Geschichten der "männermordenden Huldra". Und da
Liv mehr und mehr beginnt, diese "Geister", ansonsten für andere
unsichtbare Wesen, zu sehen, zieht es sie immer mehr hinein in diese
Zwischenwelt. Jenes geheimnisvolle Mädchen Maia, ist sie nicht einer jener
"bösen Geister", eine "Huldra"? Doch nichts ist wirklich,
wie es scheint. Vor allem nicht so, wie es Liv zunächst schildert. Selbst ihre
Mutter, selbst das Verhältnis zwischen Liv und der Mutter, mehr und mehr
zweifelt der Leser an all den Beschreibungen, die er durch Liv erfährt.
Und dennoch, bei allem Zweifel erhält auch Livs Sicht immer wieder neue
Nahrung. Als ein Fremder mit Geheimnissen in ihre Nähe zieht. Heimlich enttarnt
sie den Mann als Pädophilen und alsbald taucht auch Maia wieder auf. An der
Seite des neuen Nachbarn, der in Livs Augen damit das nächste Opfer der Huldra
sein dürfte. Und dass sie selbst, als einzige, die der Huldra so eng auf den
Fersen ist, ebenfalls ihres Lebens nicht mehr sicher sein dürfte.
Was wirkt, wie eine Kriminal-Gespenstergeschichte, bei der Leser bis zuletzt zu
harren hat, wieweit übersinnliche Phänomene sich in realitätskonforme
Abläufe hinein doch noch auflösen, spielt Burnside in hervorragender,
bildkräftiger und tief reichender Sprache mit den Grenzen dieser Realität, mit
vermeintlichen Tatsachen zwischen Wahn und Fantasie. Ein Spiel der Worte und
Ebenen, die im Lauf der Lektüre kaum noch etwas als gegeben stehen lassen. Sind
überhaupt Männer zu Tode gekommen? In der einen Lesart natürlich, aber da
gibt es ja noch ganz andere Geschichten im Buch, bei denen der Leser immer
wieder vor die Wahl gestellt wird, welchem Faden, welcher Lesart er sich
anschließen kann und will. Widersprüche liegen vor, die nicht eine einzige
komplexe Geschichte im Nachhinein ergeben werden, sondern den Leser zwingen,
sich für eine der einander widersprechenden Ereignisketten zu entscheiden. Um
sich damit doch dem Zentrum des Romans zu nähern.
Nur eine Konstante verbleibt im gesamten Buch und diese ist letztlich der
einzige "Schlüssel", der den Zugang zum Buch und zur Annäherung an
das, was die Wahrheit sein könnte, öffnet. Das Mädchen Liv in ihrer
Geschichte. Eine, die in ihren Fantasien mehr und mehr untergeht (wie die jungen
Männer in spiegelglatter See ertrunken sein sollen). Eine, bei der man lange
brauchen wird, um zu verstehen, was wirklich "mütterlich" an ihr
nagt.
Fazit
Bildkräftig, sprachgewaltig, mit einer Tiefe und Mehrdeutigkeit versehen die
ihresgleichen sucht und dabei ein genauer Beobachter und Kenner der menschlichen
Psyche in ihren noch so merkwürdigen Verästelungen, John Burnside versteht es,
Meisterwerke zu schreiben. Jeder Schritt, jede Etappe des Buches, so verwirrend
sie auch im ersten Anblick scheinen mag, ist durchdacht, gewollt und in
hervorragender Sprache auf den Weg gebracht und alles zusammen ergibt das hoch
differenzierte Bild einer Person, die droht, zu versinken, wenn sie nicht schon
vorher versunken war.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 12. März 2012 2012-03-12 13:41:30