Eltern verstehen
"Forschungsarbeiten in der Psychologie unterliegen derzeit Entwicklungen
der Wandlung. Sie gehen näher an das Lebensgeschehen von Personen
heran".
Im Zuge dieser Tendenz ist die vorliegende Forschungsarbeit ein beredtes
Beispiel und verbindet in sich wissenschaftliche Theorie und wissenschaftliches
Arbeiten mit einem der Grundthemen menschlichen Seins. Das Verhältnis zu den
Eltern, die oft inhärenten und unbewussten Abläufe, Strategien und Prägungen
in der Familie selbst, die eigene Kindheit der Eltern, die deren Strategien und
Familienbilder mit beeinflusst haben, all dieses ist Gegenstand der Betrachtung
dieser sehr fundiert und sauber dargelegten Forschungsarbeit. Um so mehr noch zu
würdigen, als Nicole Riess sich im Buch nicht mit eher anonymen oder ihr
fremden "Lebensgeschichten" auseinandersetzt, sondern, auf der Basis
der "Familienrekonstruktion", den Lebensweg der eigenen Eltern
rekonstruiert.
Die Ergebnisse ihrer Gespräche, die Fäden, die sich durch die Leben ihrer
Eltern ziehen, die persönlichen Prägungen setzt Riess im Rahmen ihrer Arbeit
in Verbindung mit Familienmodellen und Entwicklungsforschungen der Psychologie,
womit ihr die zumindest teilweise die Objektivierung der subjektiven Lebenswege
in ihrer Darstellung gelingt. Und selbstverständlich ist es auch, wenn
naturgemäß eher am Rande, ein Thema des Buches, wie die Autorin selber in
diesen gewachsenen Bezügen ihren Platz reflektierte und andere Wege mit
einschlug.
Von besonderem Augenmerk dieser speziellen "Lebensgeschichten" ist
zudem noch die Prägung durch die Zeit in, um und nach de, zweiten Weltkrieg.
Die Arbeit beinhaltet daher auch Indizien für eine Verarbeitung (oder eben
nicht-Verarbeitung) persönlich traumatischer Erlebnisse. Nicole Riess gelingt
so im Gesamten exemplarisch eine "Versprachlichung" von innen
liegenden Prägungen, unbewussten Haltungen und selten spezifisch benennbaren
"Gefühlen" einer ganzen Generation. Einhergehend mit diesen
Betrachtungen vollzieht sich eine Erweiterung des systemischen
Betrachtungsrahmens. Auch kulturelle und historische Einflüsse können (und
sollten) zukünftig systemisch mit einbezogen werden.
Aber auch in praktischer Hinsicht bietet diese Forschungsarbeit hohen Wert.
Durch die Öffnung eines intensiven Verständnisses für das "Sein"
der konkreten Eltern, durch die Möglichkeit, die Prägungen dieses Seins
lebensgeschichtlich nachzuvollziehen und einzuordnen, bieten sich auch dem Leser
selbst umgehend vielfache Assoziationen im Blick auf seine
"Altvorderen", lassen persönliche Eigenschaften der Vorgeneration in
anderem Licht erscheinen und ermuntern geradezu zu einem verstehenden Zugehen
auf diese Personen und ihre Lebensgeschichte.
In der Form legt Nicole Riess nach einem ausführlichem Blick auf die
systemische Theorie einen nachvollziehbar formulierten und ebenso strukturierten
inhaltlichen Teil vor, in dem sie ihre Methode und die beteiligten Personen
zunächst vorstellt, bevor Gesprächsprotokolle in verdichteter Form mitsamt
entsprechender Auswertung breiten Raum einnehmen. Eine Darstellung der
Gesamtergebnisse und eine Diskussion derselben runden die gesamte
wissenschaftliche Arbeit ab.
Fazit
Nicole Riess legt ein wichtiges und sowohl für das Verständnis des Problems
wie auch für die zukünftige Forschungsarbeit bedeutsames Buch vor, in dem das
"System Geschichte und Kultur" eine deutliche Erweiterung systemischer
zu beachtender Komponenten mit sich bringt. Zudem berührt das Buch durch die
persönlich gefärbten Inhalte den Leser auch in ganz direkter Form und öffnet
eigene Wege zur Umsetzung eines tieferen Verständnisses des "So
Seins" der Elterngeneration.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 02. März 2012 2012-03-02 15:11:08