Für den Wissenschaftsjournalisten Dieter E. Zimmer war das Thema Erblichkeit
von Intelligenz längst abgeschlossen, als Thilo Sarrazin (
Deutschland schafft sich ab: Wie wir
unser Land aufs Spiel setzen) es für seine populistische Streitschrift zur
mangelhaften Integration von Migranten in Deutschland wieder ausgrub. Zimmer
hatte sich mit der Erblichkeit messbarer Intelligenz seit 1974 beschäftigt und
erlebte den Aufruhr, den das Thema verursachte, anhand der Leserreaktionen auf
seine Artikel in der ZEIT. Mit seiner Klarstellung fängt der
Wissenschaftsjournalist also noch einmal bei Null an, indem er erläutert, wie
Wissenschaftler in zahlreichen Untersuchungen an Zwilingspaaren und adoptierten
Kindern ermittelten, dass der IQ durch unsere Gene stärker als durch unsere
Umwelt beeinflusst wird. Voraussetzung zum Verständnis des Themas ist die
Kenntnis der Begriffe Korrelation, Normalverteilung und Standardabweichung, die
Zimmer im Anhang erklärt.
Diskussionen um genetisch bedingte Unterschiede des IQ werden mit großem
Missionierungseifer geführt, weil es dabei auch um die Verteilung öffentlicher
Gelder zur frühkindlichen Förderung geht und darum ob die Förderung der
kognitiven Leistung von Kindern langfristig überhaupt Wirkung zeigt. Die
Veröffentlichung von Arthur Jensen von 1969, die die Kleinkind-Förderung für
wirkungslos erklärte, sorgte in den USA für einen gewaltigen Eklat, weil sie
den Glauben an die unbegrenzte Formbarkeit des Menschen in der Tradition des
Behaviorismus und den damit verbundenen Mythos des
"Jeder-kann-es-schaffen-der-sich-genug-anstrengt" als Wunschdenken
entlarvte. Jensen erboste die Nation mit seinen Erkenntnissen zum
Intelligenzquotienten einzelner Bevölkerungsgruppen, als er Schwarzen einen um
15 Punkte niedrigeren IQ im Vergleich zum Durchschnitt attestierte. Die
Verhaltensgenetik war durch Jensen in Verruf gebracht, IQ-Tests fortan verbannt,
weil Afroamerikaner schlechter darin abschnitten als Weiße und Asiaten. In
Deutschland führt die Empfindlichkeit gegenüber dem Thema
Intelligenzunterschiede ethnischer Gruppen bei vielen zur Selbstzensur. Zimmer
konstatiert sie auch bei sich und zitiert deshalb in Kapitel 12 ausschließlich
Argumente anderer Autoren zum Thema. Intelligenzunterschiede haben schon immer
zur Stabilisierung bestehender Hierarchien zwischen Schwarz und Weiß oder Mann
und Frau geführt.
1996 brachte eine kritische Bestandsaufnahme der bis dahin vorliegenden
Untersuchungen, dass die Erblichkeit von Intelligenz in der Kindheit 45%
beträgt und im Alter auf 75% ansteigt. Adoptierte Kinder hatten in ihrem IQ
wider Erwarten geringe Ähnlichkeit mit ihren Adoptiveltern und -geschwistern;
sie wurden als Jugendliche ihren leiblichen Eltern sogar immer ähnlicher. Eine
Neuanalyse bereits vorliegender Studien mit getrennt aufwachsenden eineiigen
Zwillingspaaren erbrachte eine Erblichkeit kognitiver Grundfähigkeiten von 75%,
einen Einfluss der Umwelt von (nur) bis zu 19%. 1904 bereits entdeckte der
Statistiker Spearman, dass gute Schüler häufig in mehreren Fächern gute
Leistungen brachten, und schlechte Schüler in mehreren Fächern schlecht
waren. Er nannte seinen gemeinsamen Faktor "g", general intelligence.
Obwohl ein schlichtes Rechenergebnis, wurde auch der g-Faktor zum Hassobjekt der
Öffentlichkeit. Ob der g-Faktor oder der IQ untersucht wurde, die Erblichkeit
rangierte auch bei kritischer Betrachtung zwischen 83 und 86%.
Daten über den IQ stammen zum großen Teil aus Einstellungstests für Rekruten.
Armeen hatten schon immer Interesse, mit zuverlässigen Testverfahren für die
kostspielige Ausbildung möglichst leistungsfähige Rekruten auszusieben. Ein
Testkandidat, der im Vergleich zum durchschnittlichen IQ von 100 nur einen Wert
von 80 erreicht, wird weder beim Militär noch in einem Betrieb eingestellt
werden. Zimmer stellt in diesem Zusammenhang die entscheidende Frage, welche
Jobs wir für die Bevölkerungsgruppe bereithalten, deren Fähigkeiten kein
Schulsystem verbessern wird. Im Folgenden beleuchtet der Autor kritisch, ob
IQ-Testverfahren genau und zuverlässig sind, ob sie kulturneutral sind oder
Zuwanderer mit schlechten Sprachkenntnissen evtl. benachteiligen. Er überlegt,
ob die Lebens- und Ernährungsbedingungen die Entwicklung von Intelligenz
beeinträchtigen oder fördern könnten. Auch dass Testpersonen
überdurchschnittlich oft aus der Mittelschicht rekrutiert werden und
Mittelschicht-Familien evtl. häufiger Kinder adoptieren, bedenkt Zimmer.
Schließlich stellt er eine Studie aus Schottland vor, an der die bisher
bekannten methodischen Fehler nicht zu kritisieren sind, weil sie einen
kompletten Jahrgang untersucht, aus dem sich sogar Zwillingspaare ausfiltern
ließen. Exkurse drehen sich um die Messung fluider oder kristalliner
Intelligenz, den Flynn-Effekt, der eine konstante Steigerung des IQ um einen
Punkt pro Jahr feststellte (die Werte stammen aus Musterungsuntersuchungen) und
schließlich das Altern von Intelligenz. Ergebnisse der PISA-Studie dienen
Zimmer dazu, den Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität zu
verdeutlichen. Wenn Phänomene gemeinsam auftreten (wie im PISA-Test IQ und
PISA-Werte), ist häufig erst noch zu beweisen, ob und wie Ursache und Wirkung
einander bedingen.
Mit einer Untersuchung der mathematischen Fähikgeiten von Schülern durch
niederländische Soziologen widerlegt Zimmer schließlich Sarrazins
Minderbegabungsthese (türkische muslimische Schüler in deutschen Schulen
seien Muslimen anderer Herkunft in ihrer Intelligenz unterlegen).
Ausschließlich Mathematikleistungen wurden gemessen, um eine Benachteiligung
durch mangelnde Sprachkenntnisse auszuschließen. Wenn deutsche Schüler einen
Mathematik-Quotienten von 100 erreichten, betrug er bei Immigranten generell 91,
bei türkischstämmigen Schülern in Deutschland 87 und bei türkischstämmigen
Schülern in den Niederlanden 97. Die Untersuchung widerlegt Sarrazin - und
wirft die Frage auf, warum Deutschlands Schulen das Begabungspotential von
Migranten soviel schlechter entwickeln als Schulen in den Niederlanden.
Türkische Schüler in deutschen Schulen leisteten in diesem Test ebenso viel
wie ihre Altersgenossen in türkischen Schulen (BQ von 88 und 86), die
Mathematikleistungen in anderen Ländern rund um das Mittelmeer könnten im
Gegenteil eher eine mediterrane Matheschwäche vermuten lassen.