Johannes träumt davon, eines Tages Schiffbauer zu sein. Nina Blazons Hauptfigur
hat noch einige Lehrjahre als Tischler vor sich, ehe an eine Spezialisierung
auch nur zu denken ist. Johannes ist aus Moskau nach St. Petersburg zu seinem
Onkel Michael in die Lehre gekommen. Da der Onkel bereits ein alter Mann ist und
keinen Nachfolger für die Tischlerei hat, könnten Johannes Träume von der
Seefahrt schon bald ausgeträumt sein. Am Ufer der Newa plant Zar Peter zu
Beginn des 18. Jahrhunderts, den Sümpfen seine aus Stein gebaute Festung
"Piterburch" abzutrotzen. Als Gerüstbauer auf der Großbaustelle
werden die Tischler des Michael Brehm benötigt. Große Aufregung entsteht, als
am Ufer der Newa eine tote Frau gefunden und in der Tischlerwerkstatt aufgebahrt
wird. Als die Tote über Nacht plötzlich verschwindet, raunen sich die
abergläubischen Flussbewohner zu, sie sei eine Russalka gewesen. Von Russalken,
einem Nixenvolk, erzählt man sich am Flussufer und befürchtet dass deren
Lebensgrundlage durch Zar Peters Baumaßnahmen zerstört wird. Obwohl der Zar
Aberglauben vehement bekämpft, fürchten die Brehms, dass Gerüchte über die
tote Russalka die aufgeheizte Stimmung gegen die Pläne des Zaren in Hass gegen
die ausländischen Handwerker umschlagen lassen werden. Der Widerspruch zwischen
der öffentlichen Erklärung über den Todesfall und seinen eigenen
Beobachtungen lässt Johannes nicht ruhen - er will selbst herausfinden, was es
mit der toten Frau auf sich hat. Johannes Begegnung mit dem Fischerjungen
Jewgenij verändert seinen Blick auf das Bauprojekt des Zaren - die Fronarbeit
zerstört nicht nur die Ausgleichsfläche für die Fluten der Newa, sondern auch
die Familien der Zwangsarbeiter. Als die Ablehnung der "fremden
Ketzer" in offene Drohungen umschlägt, beschließt Johannes einer alten
Prophezeiung über die Russalken zu folgen und den Verschwörungstheorien gegen
die Ausländer ein Ende zu bereiten. "Mit Brief und Siegel" begibt er
sich auf eine gefährliche Reise, um ein wertvolles Pfand nach St. Petersburg
zurückzuholen.
Nina Blazon lässt ihre Leser einem deutschstämmigen Tischlerlehrling in St.
Petersburg über die Schulter blicken. Johannes, dessen Freiheitsdrang immer
wieder mit dem Gehorsam gegenüber seinem Lehrmeister kollidiert, ist ein sehr
glaubwürdiger Charakter. Der junge Mann kann seine Ausbildung als Handwerker
nicht verleugnen. Als er die Apotheke betritt, kontrolliert er mit routiniertem
Blick, ob die Regale, die die Brehms einmal angefertigt haben, noch sicher
stehen. Die Begegnung mit Jewgenij und den Flussnixen lässt Johannes seine
kindlich-abenteuerlustige Seite ausleben. Die Lebensbedingungen der Familie
Brehm und ihrer Angestellten schildert Blazon so anschaulich, als würde man
selbst mit der Familie am Tisch sitzen. Zugleich wird deutlich, wie deutsche
Einwanderer unter Peter dem Großen nach Russland kamen und eine Verknüpfung
erkennbar zu deutschstämmigen Auswanderern aus Rusland, die sich in der
Gegenwart noch immer deutsch fühlen. Ein Nachwort, das mir vermittelt, wie und
wo die Autorin Fakten und Fiktion miteinander verwoben hat, lese ich stets
besonders interessiert.
Fazit
Nina Blazons knapper, spannender Roman gibt Einblick in den Alltag St.
Petersburgs um 1700 und stellt durch Johannes Kontakt zum Nixenvolk eine
gelungene Verknüpfung zur slawischen Mythologie dar.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 24. Januar 2012 2012-01-24 10:34:48