Gregor Schöllgen hat mit diesem Buch eine sehr interessante Analyse der
deutschen Außenpolitik seit der Wiedervereinigung vorgelegt. Er schreibt somit
sein Werk "Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland" fort.
Detailliert zeigt Schöllgen, dass mit der Wiedervereinigung, die durch den
Wegfall des Ost-West-Konfliktes erst möglich wurde, neue Erwartungen einer
aktiveren weltpolitischen Rolle an das größere wiedervereinigte Deutschland
geknüpft wurden - so etwa bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Deren
veränderte Rolle und ihre wachsenden weltweiten Einsätze werden detailliert
nachgezeichnet. Schöllgen analysiert auch die Bedeutung der USA für
Deutschland und Europa im 20. Jahrhundert und die Veränderung der
deutsch-amerikanischen Beziehungen insbesondere seit Sommer 2002. Doch schon mit
der deutschen Einheit wandelte sich allmählich das Verhältnis zwischen
Deutschland und seiner Schutzmacht, wie Schöllgen minutiös belegt. Der Autor
zeigt detailliert bereits frühere "Zumutungen" im
deutsch-amerikanischen Verhältnis seit 1949 auf, die Deutschland
"zähneknirschend" ertragen musste.
Außerdem zeigt Schöllgen, dass Deutschland mit der Wiedervereinigung wieder
als europäische Großmacht wahrgenommen wurde und spricht - in Anspielung an
Hans-Peter Schwarz "Zentralmacht Europas" (1994) von der "neuen
Macht in der Mitte Europas" (S. 73).
Schöllgen gehört zu der sogenannten neo-realistischen Schule in den
internationalen Beziehungen, die die Interessen der Staaten und nicht der
Gesellschaften in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellt. Schöllgen zeigt, dass
Europa gebaut wurde, um Deutschland einzubinden. Außerdem zeichnet Schöllgen
ausführlich die Entwicklungen nach, die Deutschland zur Gegenmacht der USA in
Europa werden ließ. Schöllgen konstatiert eine in der bisherigen deutschen
Außenpolitik seit 1949 "nicht bekannte selbstbewußte Haltung" (S.
157) und spricht davon, dass die Bundesrepublik ihre Rolle auf der Weltbühne
akzeptiert habe, die ihr in Folge der weltpolitischen Umbrüche seit Anfang der
1990-ger Jahre zugefallen sei. Die transatlantische Epoche, so die Folgerung
Schöllgens, gehe zu Ende, was nicht überraschend gewesen sei. Die europäische
Gemeinschaft müsse in der Lage sein, "gegebenenfalls aus eigener
militärischer Kraft und in eigener politischer Verantwortung zu handeln"
(S. 163), insbesondere in innereuropäischen Angelegenheiten. Handlungsfähig
werde Europa allerdings nur dann, wenn der Aufbau seiner Sicherheits- und
Verteidigungsunion mit einer klaren Definition seiner Interessen einhergehe.
"Wegen seines politischen Gewichts, wegen seines weltweiten militärischen
Engagements, wegen seiner historisch begründeten Reputation in der Dritten Welt
und wegen der Erfahrung, welche die Bundesrepublik während des
Ost-West-Konflikts mit Souveranitätsverzichten gesammelt hat, ist Deutschland
wie kaum ein zweites Mitglied der Europäischen Union gefordert, daran
federführend mitzuwirken. Seit der Vereinigung hat das Land die Statur für
diese Rolle, seit der Irak-Krise auch das Selbstbewusstsein, sie mit Augenmaß
auszufüllen. Sie anzunehmen, ist ein nationales Interesse."
Mir fällt auf, dass seit der Wiedervereinigung verstärkt von wichtigen
Politikern und Publizisten im Inland von der "Zentralmacht Europas"
oder der "neuen Macht in der Mitte Europas" gesprochen und daraus
folgend die "Wahrnehmung deutscher Interessen" gefordert wird, die
offenbar - so muss man es wohl lesen - in der alten Bundesrepublik nur
unzureichend wahrgenommen worden sei. Genau dies wird aber nur angedeutet. Die
Forderung, die deutschen Interessen deutlicher wahrzunehmen, ist nicht neu. Dies
kann man etwa auch in dem neuen Buch von
Egon Bahr: "Der deutsche
Weg" nachlesen. Europa - und Deutschland in ihm - sollten selbstbewußt
eigene Interessen formulieren und - gegenüber der zunehmend als Konkurrenz
empfundenen USA- durchsetzen. Dieses fordert auch Schöllgen. Kein Wort fällt
über die "Zivilmacht Deutschland" oder über den Einfluss der
Gesellschaft auf die Außenpolitik, der "Gesellschaftswelt" wie sie
Ernst-Otto Czempiel in seinem
Buch: "
Weltpolitik" formuliert hat.
Das Unbehagen über den Unilateralismus der Regierung von George W. Bush junior
lässt diese Forderungen derzeit sehr populär werden. Es fällt auf, dass
wieder vom "deutschen Weg" - in Anlehnung an eine Äußerung von
Bundeskanzler Schröder vom 05. August 2002 - und nicht von Europa als
Wertgemeinschaft gesprochen wird. Auffällig ist ebenso die Betonung der
deutsch-französischen Partnerschaft, die gerade in der Irak-Krise als
Interessengemeinschaft gegen die Politik der USA empfunden wurde. Stärker noch
als bei Bahr kommt für mich der Eindruck auf, dass Schöllgen die Parole:
"Wir sind wieder wer" - in Anlehnung an Hans-Peter Schwarz - hoffähig
macht. Dies gilt auch für die Publikation Egon Bahrs, den Kissinger in seinen
Memoiren als "Nationalisten" bezeichnet hat. Es scheint mir auch klar,
dass aufgrund des negativen Eindrucks, den die Außenpolitik der Bush-Regierung
mehrheitlich auf die europäische und die deutsche Bevölkerung m macht,
derartige Publikationen immer populärer werden.
Wie auch das Buch von Egon Bahr verdeutlicht, scheint sich allmählich in
unserer politischen Klasse ein Konsens herauszubilden, der eine derartige
offensivere deutsche Interessenwahrnehmung innerhalb Europas und gegenüber den
USA fordert. Dies macht das Werk von Schöllgen, der sehr viele Informationen
zusammengetragen hat und lesbar schreibt, sehr deutlich. Man mag dies mit
gemischten Gefühlen begleiten oder auch missbilligen.