Alice Sievers Krücken sind nicht zu übersehen, aber dass sie bei einem
Tieffliegerangriff ihr Bein verloren hat, wissen nur wenige.
"Tocktock" nennt Lehrer Graber Alice respektlos; ein eingefleischter
Nazi, der den Schulbetrieb aufrechthalten soll, bis hoffentlich bald wieder
politisch unbelastete Lehrer unterrichten werden. Alice hat die Erfahrung
gemacht, dass die Leute einen nach dem beurteilen, was einem fehlt. Alice, ihr
Bruder Henry, "Mem", die Mutter, und die Großmutter der Kinder sind
am Ende des Zweiten Weltkriegs nach der Besetzung der Insel Helgoland durch die
Briten nach Hamburg evakuiert und von den Behörden bei Frau Kindler
einquartiert worden. Vor dem Krieg fuhren Kindlers gern nach Helgoland in
Urlaub, daher kannten sich die beiden Familien. Die Unterkunft bei Kindlers ist
kein reiner Feundschaftsdienst, Mem und Oma bezahlen ihn mit ihrem gesamten
Einkommen, ihrer zugeteilten Zigarettenration. Die Hausbesitzerin und ihr
erwachsener Sohn dürfen selbst ein Zimmer nutzen, in alle anderen Räume wurde
von den Behörden jeweils eine Flüchtlingsfamilie einquartiert. Den Plan, wann
jede Familie in der gemeinsamen Küche kochen, sich und die Wäsche waschen
darf, führt Henry. Frau Kindler hatte Glück, dass "die Tommys", die
britische Militärregierung, nicht gleich das gesamte Haus beschlagnahmt haben.
Mancher hauste damals für lange Zeit im Keller seines von den Briten
beschlagnahmten Hauses. Alices und Henrys Vater ist als Kriegsgefangener zur
Arbeit in Belgien eingesetzt. Obwohl von ihm lange keine Nachricht mehr kam,
hofft die Familie täglich auf seine Rückkehr. Zwischen Alice und Henry gibt es
manchen Streit, ob der Verlust der Heimat von Evakuierten anders empfunden wird
als von Flüchtlingen. Inselbewohner leiden stärker, wenn ihnen der
Zusammenhalt genommen wird, beharrt Alice. Sie hat am Tag der Bombardierung
Helgolands Schlimmes gesehen; ihre Ängste übertragen sich beim Lesen fast
körperlich. Henry fühlt sich verpflichtet, eine Angelegenheit mit einem
"Verräter" zu klären, die er am Tag vor dem Angriff der Engländer
auf Helgoland beobachtete und die ihn nicht loslässt. Gerüchte, die
Engländer würden Helgoland sprengen und die Insulaner könnten nicht wieder
zurück, machen die Runde und die Kinder entdecken zu ihrer Empörung in Hamburg
auf dem Tauschmarkt Gegenstände, die nur auf der Insel geplündert worden
sein können.
Als neue Bewohner werden bei Kindlers Wim und seine Mutter einquartiert.
Während Alice sich noch darum sorgt, wie für Wim eine Portion an der
täglichen Schulspeisung sichergestellt werden kann, hat der das Thema Schule
längst abgeschrieben. Wim verdient schon bald den Lebensunterhalt für sich und
seine Mutter auf dem Schwarzmarkt. Im Team mit Alice entwickelt er sich zu einem
gewieften Geschäftemacher. Beide Familien sind auf die Waren angewiesen, die
Wim und Alice beschaffen; denn nur 1000 Kalorien pro Tag stehen jedem
Erwachsenen zu, der arbeitet - in Form von Lebensmittelkarten. Arbeit gibt es in
der Fabrik oder beim Steineklopfen für den Wiederaufbau. Henry soll im Auftrag
von James Krüss (1926-1997) die Erinnerungen der verstreut untergebrachten
Helgoländer für eine geplante Zeitung notieren, um die Gemeinschaft der
Insulaner zu erhalten.
Wim, Alice, Henry und die Erwachsenen schlagen sich auf unterschiedliche Weise
im Hamburg der Nachkriegszeit durch. Obwohl offiziell Frieden herrscht, fällt
es im Hungerwinter 1946/47 schwer, in den Briten nicht mehr den Feind zu sehen.
Die kargen Lebensmittelrationen sättigen nur für wenige Stunden. Den Rest des
Tages müssen die Deutschen hungern, während sie Zeuge werden, in welchem
Überfluss die Besatzer vor ihren Augen leben. Wer wie Mem einen Job "beim
Tommy" ergattern kann, muss mit dem Neid anderer rechnen.
Anne Voorhoeve erzählt glaubwürdig aus Sicht ihrer Hauptfigur Alice. Die
Zwölfjährige ist oft unsicher auf wessen Seite sie sich stellen soll, und von
den entwurzelten Erwachsenen ist kaum Hilfe bei der Orientierung zu erwarten.
Wenn Eltern über die Vergangenheit so entschlossen schweigen, muss die Wahrheit
grauenvoll sein, fürchtet Alice. Während Lehrer Graber noch immer offen die
Judenverfolgung bestreitet, macht sich Alice, angeregt durch die Bekanntschaft
mit Herrn Goldstein, ein eigenes Bild.
Fazit
Mit sorgfältig recherchierten Details fängt die Autorin die Atmosphäre der
ersten beiden Nachkriegsjahre erstaunlich lebendig ein. Das ausgebombte Hamburg
mit seinem Geruch aus Ziegelstaub und dem Rauch von Holzfeuern meint man beim
Lesen selbst zu riechen. Im Nachwort berichtet Anne Voorhoeve, wie sie das Leben
ihrer fiktiven Familie recherchiert hat. Über das Leben unter britischer
Besatzung haben viele der Zeitzeugen bisher geschwiegen, so dass
"Unterland" (die Bezeichnung für einen Teil Helgolands) nicht nur
jugendliche Leser ab 13 fesseln wird. Würden die jugendlichen Hauptfiguren des
Jahres 1947 auf den letzten Seiten des Romans nicht unvermittelt in den Jargon
unserer Tage kippen, hätte das Buch 10 Sterne verdient.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 27. Dezember 2011 2011-12-27 10:45:22