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Anne C. Voorhoeve: Unterland

Unterland

von Anne C. Voorhoeve
Verlag: Ravensburger Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Jugendroman
ISBN-13 978-3-473-40074-4

Preis: 3,67 Euro bei Amazon.de [Stand: 22. Dezember 2024]
Alice Sievers Krücken sind nicht zu übersehen, aber dass sie bei einem Tieffliegerangriff ihr Bein verloren hat, wissen nur wenige. "Tocktock" nennt Lehrer Graber Alice respektlos; ein eingefleischter Nazi, der den Schulbetrieb aufrechthalten soll, bis hoffentlich bald wieder politisch unbelastete Lehrer unterrichten werden. Alice hat die Erfahrung gemacht, dass die Leute einen nach dem beurteilen, was einem fehlt. Alice, ihr Bruder Henry, "Mem", die Mutter, und die Großmutter der Kinder sind am Ende des Zweiten Weltkriegs nach der Besetzung der Insel Helgoland durch die Briten nach Hamburg evakuiert und von den Behörden bei Frau Kindler einquartiert worden. Vor dem Krieg fuhren Kindlers gern nach Helgoland in Urlaub, daher kannten sich die beiden Familien. Die Unterkunft bei Kindlers ist kein reiner Feundschaftsdienst, Mem und Oma bezahlen ihn mit ihrem gesamten Einkommen, ihrer zugeteilten Zigarettenration. Die Hausbesitzerin und ihr erwachsener Sohn dürfen selbst ein Zimmer nutzen, in alle anderen Räume wurde von den Behörden jeweils eine Flüchtlingsfamilie einquartiert. Den Plan, wann jede Familie in der gemeinsamen Küche kochen, sich und die Wäsche waschen darf, führt Henry. Frau Kindler hatte Glück, dass "die Tommys", die britische Militärregierung, nicht gleich das gesamte Haus beschlagnahmt haben. Mancher hauste damals für lange Zeit im Keller seines von den Briten beschlagnahmten Hauses. Alices und Henrys Vater ist als Kriegsgefangener zur Arbeit in Belgien eingesetzt. Obwohl von ihm lange keine Nachricht mehr kam, hofft die Familie täglich auf seine Rückkehr. Zwischen Alice und Henry gibt es manchen Streit, ob der Verlust der Heimat von Evakuierten anders empfunden wird als von Flüchtlingen. Inselbewohner leiden stärker, wenn ihnen der Zusammenhalt genommen wird, beharrt Alice. Sie hat am Tag der Bombardierung Helgolands Schlimmes gesehen; ihre Ängste übertragen sich beim Lesen fast körperlich. Henry fühlt sich verpflichtet, eine Angelegenheit mit einem "Verräter" zu klären, die er am Tag vor dem Angriff der Engländer auf Helgoland beobachtete und die ihn nicht loslässt. Gerüchte, die Engländer würden Helgoland sprengen und die Insulaner könnten nicht wieder zurück, machen die Runde und die Kinder entdecken zu ihrer Empörung in Hamburg auf dem Tauschmarkt Gegenstände, die nur auf der Insel geplündert worden sein können.

Als neue Bewohner werden bei Kindlers Wim und seine Mutter einquartiert. Während Alice sich noch darum sorgt, wie für Wim eine Portion an der täglichen Schulspeisung sichergestellt werden kann, hat der das Thema Schule längst abgeschrieben. Wim verdient schon bald den Lebensunterhalt für sich und seine Mutter auf dem Schwarzmarkt. Im Team mit Alice entwickelt er sich zu einem gewieften Geschäftemacher. Beide Familien sind auf die Waren angewiesen, die Wim und Alice beschaffen; denn nur 1000 Kalorien pro Tag stehen jedem Erwachsenen zu, der arbeitet - in Form von Lebensmittelkarten. Arbeit gibt es in der Fabrik oder beim Steineklopfen für den Wiederaufbau. Henry soll im Auftrag von James Krüss (1926-1997) die Erinnerungen der verstreut untergebrachten Helgoländer für eine geplante Zeitung notieren, um die Gemeinschaft der Insulaner zu erhalten.

Wim, Alice, Henry und die Erwachsenen schlagen sich auf unterschiedliche Weise im Hamburg der Nachkriegszeit durch. Obwohl offiziell Frieden herrscht, fällt es im Hungerwinter 1946/47 schwer, in den Briten nicht mehr den Feind zu sehen. Die kargen Lebensmittelrationen sättigen nur für wenige Stunden. Den Rest des Tages müssen die Deutschen hungern, während sie Zeuge werden, in welchem Überfluss die Besatzer vor ihren Augen leben. Wer wie Mem einen Job "beim Tommy" ergattern kann, muss mit dem Neid anderer rechnen.

Anne Voorhoeve erzählt glaubwürdig aus Sicht ihrer Hauptfigur Alice. Die Zwölfjährige ist oft unsicher auf wessen Seite sie sich stellen soll, und von den entwurzelten Erwachsenen ist kaum Hilfe bei der Orientierung zu erwarten. Wenn Eltern über die Vergangenheit so entschlossen schweigen, muss die Wahrheit grauenvoll sein, fürchtet Alice. Während Lehrer Graber noch immer offen die Judenverfolgung bestreitet, macht sich Alice, angeregt durch die Bekanntschaft mit Herrn Goldstein, ein eigenes Bild.
Fazit
Mit sorgfältig recherchierten Details fängt die Autorin die Atmosphäre der ersten beiden Nachkriegsjahre erstaunlich lebendig ein. Das ausgebombte Hamburg mit seinem Geruch aus Ziegelstaub und dem Rauch von Holzfeuern meint man beim Lesen selbst zu riechen. Im Nachwort berichtet Anne Voorhoeve, wie sie das Leben ihrer fiktiven Familie recherchiert hat. Über das Leben unter britischer Besatzung haben viele der Zeitzeugen bisher geschwiegen, so dass "Unterland" (die Bezeichnung für einen Teil Helgolands) nicht nur jugendliche Leser ab 13 fesseln wird. Würden die jugendlichen Hauptfiguren des Jahres 1947 auf den letzten Seiten des Romans nicht unvermittelt in den Jargon unserer Tage kippen, hätte das Buch 10 Sterne verdient.
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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 27. Dezember 2011

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