Anna und Abel stehen kurz vor dem Abitur. Anna sagt von sich selbst, dass sie in
einer Seifenblase lebt und von vielen Dingen nicht weiß, die alle anderen an
der Schule wissen. Ob das Grund genug ist für die Naivität, mit der sie ihrem
Klassenkameraden Abel gegenübertritt? Abel sticht in seinem Verhalten und
seinem Äußeren deutlich ab von Gitta, Hennes und den anderen Mitschülern aus
bürgerlichen Verhältnissen. Er lebt mit seiner sechsjährigen Schwester allein
in einem Plattenbau am Rande von Greifswald. Seit die Mutter der Kinder
verschwunden ist, wird es für Abel zunehmend komplizierter seine Schulpflichten
und die Betreuung einer Erstklässlerin unter einen Hut zu bekommen. Abel will
der misstrauischen Nachbarin möglichst wenig Anlass bieten, wegen der
alleingelassenen Kinder das Jugend- und Sozialamt zu informieren. Abels einziger
Verbündeter ist offenbar der Deutschlehrer, der ihn schon oft gedeckt hat; denn
ihm liegt daran, dass der Junge seinen Schulabschluss schafft.
Die Geschichte der verschwundenen Mutter webt Abel für seine Schwester Micha in
das Märchen von der Klippenkönigin, die auf ihrem grünen Schiff mit dem
gelben Steuerrad von Insel zu Insel reist. Anna verfällt rettungslos Abels
Talent als Märchenerzähler und verliebt sich in ihn. Micha, Anna und die Leser
der Geschichte können aus den Märchensequenzen individuelle Botschaften für
sich herauslesen. Auf einer dritten Handlungsebene wird ein geheimnisvoller
Beobachter der Geschehnisse angedeutet, der sehr bedrohlich wirkt und auf dessen
Eingreifen der Leser mit großer Spannung wartet. In einigen Szenen mag man
seinem eigenen Urteil über die Figuren aufgrund ihrer changierenden
Charakterzüge kaum glauben.
Antonia Michaelis verzaubert mit ihrem märchenhaften Roman Leserinnen aller
Altersgruppen. Die Autorin erzählt diese ungewöhnliche Geschichte in
unverwechselbarer Sprache; ihr sehr eigener Humor reißt beim Lesen einfach mit.
Im Mittelpunkt der Geschichte stand für mich das Problem der Sozialwaisen, die
sich äußerst listig staatlichen Hilfsmaßnahmen entziehen, weil sie nur in
Schwarzweiß-Mustern zu denken gelernt haben. Abel verstrickt sich hoffnungslos
in seinen Annahmen, Jugendliche hätten keine Rechte, Behörden kämen nur zum
Kontrollieren und Sozialpädagogen würden Kinder "wegnehmen". Niemand
aus dem Umfeld der Kinder scheint je von Notrufnummern des Kinderschutzbundes,
Familienhelferinnen oder Pflegefamilien gehört zu haben, die kurzfristig ein
Kind aufnehmen können. Selbst die kritische Stimme von Annas Freundin Gitta
kann kaum zu Anna durchdringen. Die Klassengemeinschaft grenzt Abel aus und
stellt sich als unfähig dar, Anna und Abel aus der Versponnenheit in ihre
Dreiersymbiose mit Micha zu befreien. Das halbherzige Hilfsangebot von Annas
Vater, der von Beruf Arzt ist, verkennt, dass Abel nicht allein Geld für den
Lebensunterhalt braucht, sondern auch die kleine Micha eine zuverlässige
Betreuung. Dass Anna aufgrund ihrer gutbürgerlichen Herkunft mit 18 so
weltfremd ist, Abels starres Weltbild zu akzeptieren, mag ich noch hinnehmen.
Dass jedoch keiner der beteiligten Erwachsenen dem Jungen alternative
Hilfsangebote aufzeigt und dabei auf seine Angst vor dem Verlust der kleinen
Schwester eingeht, halte ich für die Lesergruppe ab 14, an die sich das Buch
richtet, für ein falsches Signal. Micha und Abel sind in ihrer Stadt sicher
nicht die ersten Kinder, die plötzlich auf sich gestellt sind. Die Unfähigkeit
aller Beteiligten, Hilfe anzunehmen oder sich über Hilfsangebote zu
informieren, wirkt auf mich extrem klischeehaft. Gute Jugendliteratur dagegen
soll Klischees bewusst machen, sie dazu aufbrechen und jugendlichen Lesern
möglichst Handlungsalternativen aufzeigen. Weitere Kritikpunkte sind Annas
passives Erleiden der Beziehung zu ihrem Outlaw und der Gewalt, die Abel
ausübt. Denkfallen wie diese, wenn Frauen Gewalt ihrer Partner erdulden, weil
sie den Täter als Opfer sehen, lassen Frauen immer wieder selbst Opfer von
Gewalt in Beziehungen werden.
Fazit
Als sozialkritisches Buch für Erwachsene, das durch seine märchenhafte Sprache
zum Lesen verführt und mit überraschenden Wendungen aufzuwarten hat, empfehle
ich den Märchenerzähler gern. Wegen des Transports von Rollenklischees und der
unkritischen Darstellung von Gewalt sollten Eltern den Roman möglichst selbst
lesen, bevor sie ihn Vierzehnjährigen schenken.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 10. Dezember 2011 2011-12-10 14:44:34