Leben und Sterben im Ghetto von Lodz
"Sechsundsechzig Jahre lebe ich nun schon und bin des Glücks, mich Vater
nennen zu können, noch immer nicht teilhaftig geworden, und jetzt verlangen die
Behörden von mir, dass ich alle meine Kinder opfere."
Innerlich vor Schmerzen scheint sich der Judenälteste des Ghettos, Rumkowski,
zu krümmen, als ihm die deutschen Behörden mitteilen, dass er umgehend Listen
abzuliefern hat. Die Alten und Kinder des Ghettos sind nun der nächste Schritt,
nachdem die Kranken bereits abtransportiert wurden. Aber krümmt er sich
wirklich vor Schmerzen? Es wird sich herausstellen, dass Rumkowski beileibe kein
"Widerstandkämpfer vor dem Herren" ist und in dieser Figur, ebenso
wie in vielen anderen handelnden Personen des Romans, erweist sich umgehend,
dass Steve Sem-Sandberg vor allem eines nicht ist. Oberflächlich.
In diesem Augenblick, mit diesem erneuten Opfer unter vielen Opfern, setzt der
Roman ein und wendet sich der Geschichte des Ghettos von Lodz zu. Durchaus mit
einbeziehend, aber weniger in den zentralen Fokus setzt Sem-Sandberg hierbei die
äußere Geschichte des Ghettos. Sein eigentliches Interesse aber gilt dem
"Innenleben" des Ghettos, jener Atmosphäre von Not, Verzweiflung,
aber auch Kollaboration und Hilfestellung für die Vernichtungsmaschinerie der
Nazis, die auch Teil dieser immerwährend aktuellen Geschichte des Holocaust
ist.
Nicht aber nur vordergründig auf den eigenen Vorteil bedacht ist jener
Judenälteste. Auch das wäre zu einfach gedacht, nicht nur im Roman. Durchaus
eine Form innerer Logik wohnt ihm inne, sozusagen ein Plan, sich durch
Annäherung an die deutsche Herrschaft und Verinnerlichung derer Vorgaben einen
Platz für sich und "seine" Juden zu sichern. Wobei ihm das
Individuum, der einzelne, nicht von Bedeutung erscheint und auch emotional
Rumkowski das Geschehen kaum nahekommt. So differenziert schwankt auch der Leser
in der Betrachtung dieses Judenältesten zwischen Abscheu und Anflügen von
Verständnis und erhält auf diese Weise ein direktes Empfinden für die
Widersprüchlichkeit jener bedrängten Situation und jener perfiden Logik, die
über das Leben im Ghetto herrschte. Und erlebt die Hilflosigkeit und Ohnmacht
der Ghettobewohner hautnah mit, die, egal auf welche Art und Weise auch immer,
der geplanten Vernichtung nicht wirklich entgehen können.
Auch wenn Rumkowski in seiner inneren Irrung, seiner ihm eigenen Vorteilsnahme
die zentrale Figur des Romans darstellt und Sem-Sandberg damit eine reale,
geschichtliche Person zum Ankerpunkt seines Romans gestaltet, beileibe nicht nur
um ihn drehen sich die Geschehnisse im Buch. Immer wieder setzt Sem-Sandberg
andere Personen in das Scheinwerferlicht seiner Betrachtung, lässt
dokumentarische Einschübe einfließen und erschafft so eine ungeheuere Nähe
zum Leben im Ghetto und zum Erleben einzelner Schicksale.
Eine Nähe, der sich der Leser kaum entziehen kann und in der das Leiden, die
Intrigen, die Komplizenschaft und, eben, die Grausamkeit jener
"Durchgangsstation" authentisch und teils schrecklich zu lesen in den
Raum tritt. Der sich der Leser gerade aufgrund der Nüchternheit, der
Dokumentationsartigkeit, kaum entziehen kann. Trotz der literarischen
Verarbeitung überhöht Sem-Sandberg nichts, beschönigt nichts, übertreibt
nicht, sondern legt seine Personen (allesamt mit realem Hintergrund) und die
Allgegenwärtigkeit des Terrors und des Verlustes eher nüchtern berichtend im
Buch vor.
Fazit
"Die Elenden von Lodz" ist ein romanhaftes Zeitzeugnis der besonderen
Art, dass so schnell den Leser nicht mehr loslassen wird. Hart, schmerzlich, das
innere Erleben und die Motive der Figuren hell ausleuchtend hält es
schmerzliche Fragen nicht nur an die Geschichte, sondern auch an die Gegenwart
menschlicher Verblendung und Grausamkeit offen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 21. November 2011 2011-11-21 13:52:14