Ein mutiges Plädoyer für eine andere katholische Kirche
Andreas Wingert ist Priester, fast 50 Jahre alt. Durchaus mit Leib und Seele.
Vor allem aber auch Mensch, zutiefst erschrocken über die Missbrauchsfälle
innerhalb der katholischen Kirche. Und ein Priester, der bei diesem Erschrecken
nicht stehen bleiben will. So macht er sich auf und macht sich stark für eine
Reform der katholischen Kirche vor allem im Bereich der verknöcherten,
verhärteten, dogmatischen, gnadenlosen Sexuallehre. Eine Kritik auch, die
gefüllt ist durch sein eigenes Leben, seine eigenen Widersprüche. Und er tut
dies öffentlich und muss nicht lange auf eine Reaktion der "anderen
Seite" warten, Dies aber kommt anders, als der dachte und sich erhofft
hätte.
"Vielleicht würde es keine Geburtstagsfeier geben, wenn diese verrückten
Missbrauchsvorwürfe der Wahnmut erst einmal in die Welt getragen
wären."
Denn er selbst sieht sich zweideutigen Gerüchten plötzlich gegenüber.
Gerüchten um "unsittliche Annäherungen an einen Messdiener". Und
dies just in der Folge einer seiner Predigten, in denen er Farbe bekannt, die
Forderung nach Veränderungen stellt. Und nun feststellen muss, dass in einer
Zeit, in der sich ein Verdacht fast umgehend in ein Urteil verwandelt, es schwer
ist, dagegen zu halten.
Sein einziger wirklicher Bezugspunkt, sein Freund Thomas, droht zudem noch, ihm
abhanden zu kommen. Herzinfarkt, Intensivstation Uniklinik Münster.
Auf zwei Zeitebenen nun folgt Michael Göring in wunderbar gesetzter Sprache dem
Lebensweg des Andreas Wingert. Zum einen in der Gegenwart, in seinem Kampf um
seinen Ruf und um eine Notwendigkeit der Änderung in seiner Kirche und zum
zweiten in der Vergangenheit, indem Göring den gemeinsamen Weg seines
Protagonisten mit dessen Freund Thomas erinnert. Gerade diese zweite Zeitschiene
ist der eigentliche Schwerpunkt des Romans. Einer, der durchaus seine Zweifel
hat. Der durchaus den Zölibat nicht wirklich zu leben vermag (eine heimliche
Geliebte des Priesters steht im Raum). Behutsam und emotional tief reichend
entblättert Göring den Lebensweg, die Prägungen, die Persönlichkeit des
Priesters Andreas und setzt ein überaus gelungenes Portrait eines zutiefst
menschlichen Mannes und Priesters in den Raum. Eines Menschen, in dem sich eine
tiefe spirituelle Persönlichkeit ebenso im Lauf der Jahre entwickelt hat wie
eine (offiziell oft zu verbergende) Lebenslust und Lebenszugewandtheit. Ein
Mensch, der eigentlich ganz normal und ganz bei sich heranreift und ob der
rigiden Regeln der Kirche einen Teil seiner inneren Welt, seiner Befindlichkeit,
lernen muss, zu verbergen.
An diesem Punkt treffen sich die beiden Zeitebenen und reicht die Person Andreas
Wingert im Roman über sich hinaus. Wie Entwicklungen ins Heimliche gedrängt
werden, die in sich doch ganz folgerichtig und "menschlich" sein
könnten, wie durch diese Verdrängung in Heimliche hinein auch ganz andere
Persönlichkeitsstrukturen ihr zweischneidiges Spiel leben können (hier
Priester, dort Päderast zum Beispiel), das erschließt sich quasi "von
Innen" her durch die Lektüre des Buches in durchaus sensibler Weise.
Eine Lebensreflektion, die Göring im Buch dialogisch aufarbeitet und dabei ohne
erhobenen Zeigefinger den Finger immer wieder ganz einfach auf eine vorhandene
Wunde des katholischen Klerus legt. Dass sicher nicht nur beim Protagonisten im
Buch die eigentliche Lebensweise, gerade was den sexuellen Bereich angeht, nicht
in Übereinstimmung mit der offiziellen Lesart steht. Weder was den Zölibat,
noch was Homosexualität, noch was Sexualität an sich angeht.
Aus dieser Spannung innerhalb der Person des Andreas Wingert heraus ergibt sich
im Buch dieses mit hinein nehmende Element. Beide Seiten haben eben ihre Wurzeln
und Berechtigungen in der Person des Priesters. Die spirituelle, der Amtskirche
zugeneigte, dort eine Heimat sich schaffende Seite und die andere,
lebenslustige, emotionsreiche und auch privat leben wollende Seite.
Eie Seite, die Andreas durchaus auslebt und nun auch versucht, diese innere
Spannung im Umfeld der Missbrauchfälle mutig zu thematisieren und eine Öffnung
für diese Themen ins seiner Kirche zu erreichen. Und auf ein Wegweichen trifft,
auf eine Wand, durch die er scheints nicht durchdringen wird, er, der immer
Priester und Mensch war und sein wollte und dies, wenn überhaupt, letztlich nur
heimlich sein durfte und darf. Keine Frage, dass man das Buch kaum aus der Hand
zu legen vermag, bis sich am Ende hin klärt, welchen Weg Andreas für sich
finden wird und welchen Umgang die Menschen seiner Gemeinde, seine Kirche und
"die Gesellschaft" mit ihm und seiner Angreifbarkeit finden wird.
Fazit
Michael Göring ist ein sprachlich hervorragendes und emotional tiefes Buch
gelungen, in dem er nicht einfach die katholische Kirche an den Pranger stellt,
sondern eine zutiefst menschliche Entwicklung im Rahmen dieser Kirche vor Augen
führt, die als eigene Person letztlich kaum mit und kaum ohne diese Kirche sich
selbst gemäß zu leben vermag. Ein schmaler Grat, den Andreas zu leben versucht
und den Göring präzise darstellt. Ein Versuch, dem das Titelbild des einsamen
Mannes auf dem Steg hervorragend gegenüber korrespondiert. Einer, dessen
"Lebensnetz", dessen "äußere Heimat" droht, verloren zu
gehen, Eine sehr empfehlenswerte Lektüre, nicht nur für Kirchenkritiker.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 09. November 2011 2011-11-09 13:57:36