Einführungen, Gesamtdarstellungen und Lesebücher zum Mittelalter gibt es genug
- doch keines wie das vorliegende. Johannes Fried, einer der führenden
deutschen Mediävisten, und Olaf Rader, Autor einer viel beachteten Biographie
Kaiser Friedrichs II., sind die Herausgeber dieses Bandes sind, in dem ein
innovativer Zugriff auf die Welt des Mittelalters erprobt wird.
Es ist ein gewisses Wagnis, wenn angesehene Mediävisten versuchen, dem Leser,
der oft Laie ist, anhand von "Erinnerungsorten" die Welt des
Mittelalters näher zu bringen. Schwierig ist bereits die Auswahl: was ist
"mittelalterlich"? Sicherlich Burgen, bekannte Herrscher oder Ritter.
Sie alle kommen in dem schön aufgemachten Buch vor. Aber auch die Brille, die
Universitäten (die in ihrer Form erst im Mittelalter entstanden), Walther von
der Vogelweide oder die Magna Charta sind enthalten.
Über die Auswahl der Erinnerungsorte ließe sich sicherlich streiten, doch die
hier gewählten können alles in allem durchaus überzeugen und sind vor allem
nicht losgelöst von einander. Als Leitfaden diente den Autoren die Frage nach
der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Funktion der
Erinnerungsorte: Was bedeuteten sie im geschichtlichen Kontext und heute.
Den Anfang machen die Schauplätze (Jerusalem, Burgund, Aachen und dessen
Bedeutung im Rahmen des Karlskults, Santiago de Compostela sowie jüdische
Friedhöfe). Bereits dieses Kapitel zeigt, dass kein Anspruch auf
Vollständigkeit erhoben wurde, sondern die Vielfalt betont wurde - und dieses
Konzept ist durchaus erfrischend. Es folgen Kapitel zu den Bauten (wie Burgen
und Kathedralen), Bedrohungen (wie die stetige Angst vor dem Weltende und den
realen Gefahren durch Pest und Wikinger), Personen (so z. B. Friedrich
Barbarossa und sein Enkel Friedrich II., Dante und Jeanne d'Arc), Pergamente
(die berühmte Fälschung der "konstantinischen Schenkung", die Magna
Charta, die Goldene Bulle von 1356 und die Buchmalerei), Ideen und schließlich
Institutionen (wie das Papsttum und die Universitäten). Den Schluss bilden
Anmerkungen und Literaturhinweise.
Alle Beiträge sind von Fachwissenschaftlern erstellt, die die jeweils relevante
Forschungsliteratur einbezogen haben. Die Lesbarkeit der Beiträge ist jedoch,
was keineswegs selbstverständlich ist, sehr gut, ohne den wissenschaftlichen
Anspruch aufzugeben. Freilich sind manche Beiträge lesenswerter als andere,
doch dies hängt auch von den persönlichen Interessen ab. Aufschlussreich sind
sie alle, zumal die Autoren in der Regel über ihnen sehr vertraute Fachthemen
schreiben. Eher ungewöhnliche Beiträge - wie die zum Weltende oder "Gut
gegen Böse" - machen zudem den besonderen Reiz dieser Lektüre aus.
Fazit
Das vorliegende Buch darf als gelungener Versuch bezeichnet werden, die
"Welt des Mittelalters" dem heutigen Leser näher zu bringen. Es
handelt sich freilich weder um eine umfassende Geschichte des Mittelalters noch
um eine Einführung im eigentlichen Sinne. Beides ist auch nicht Zweck der
Darstellung. Vielmehr bietet das Buch einen neuen Zugang zum Mittelalter und
stellt gleichzeitig eine Kulturgeschichte dieser Zeit dar, die facettenreicher
war, als man es heute manchmal glaubt. Über die Auswahl mag man sich streiten,
zudem ist es schade, dass manche Aspekte (wie Byzanz) keine weitere Beachtung
fanden.
Dem Buch sind jedenfalls viele Leser zu wünschen, denen sich hier ein Panorama
der mittelalterlichen Welt entfaltet - das alles auf einem hohen Niveau und in
gut lesbarer Form.
Vorgeschlagen von B. Kiemerer
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veröffentlicht am 04. November 2011 2011-11-04 13:18:07