Stoa
Seneca war, nicht nur zu seiner Zeit, einer der bekanntesten Philosophen und
Redner Roms. Ziehvater und Mentor des jungen Nero, Stoiker nicht nur aus
intellektueller Anschauung heraus, sondern aus ganzem Wesen heraus vollzog
Seneca jene individuell Haltung der Einordnung in die Weltordnung, in das
übergeordnete universale Prinzip der Welt. Dieses Prinzip gilt es, zu erkennen
und seinen eigenen Platz gilt es, unverbrüchlich zu wahren. Mit Gelassenheit,
einer gehörigen Portion Selbstdistanz und dem Wissen darum, ein konkreter und
gewisser Teil des großen Ganzen zu sein, dessen Walten das menschliche
Verständnis überschreitet, dem man sich aber hingeben darf, kann und soll.
Eine Haltung, die gerade zum Ende des Lebens Seneca hin von diesem überzeugend
eingenommen wird. Nero selbst hat seinen alten Lehrmeister dem Tode
preisgegeben. Ein Urteil zur Selbsttötung, dem sich Seneca, stoisch eben, nicht
entziehen wird.
Diese Situation nimmt Thorsten Becker auf als Grundlage seiner literarischen
Verarbeitung. Eine "Trostschrift Senecas" verfasst er, in der jener
Seneca seinem Schützling und nun Mörder Nero versucht, die zwingend logische
Ereignisreihe aufzuzeigen, die nun in die Gegenwart des Todesurteils geführt
hat, indem er die Geschichte des Lebens und Sterbens von Agrippina, Neros
Mutter, erzählt. Deftig, ungeschönt und voll praller Dekadenz, aus der nichts
Gutes auf Dauer erwachsen kann, wie Seneca im Buch sprachgewaltig aufzeigt.
Thorsten Becker vollzieht dies mit einem klaren Bild auf die Zeitlosigkeit der
Ereignisse und, vor allem, der bewegenden Motive. Der selbstverliebte,
machtbewusste, einer eigenen Reflektion unfähige Nero, der rücksichtslos alles
aus den Weg räumt, was ihm im Weg stehen könnte, einschließlich der eigenen
Mutter (beileibe auch kein Kind von Traurigkeit zu ihrer Zeit und Nero
charakterlich in nichts Negativem nachstehend, wie Becker minutiös Seite für
Seite darstellt). Erinnert dies nicht an Herrscher und selbsternannte Führer
aller Zeiten? Die Selbstverliebtheit, vor allem der getrübte Blick auf die
Rolle der eigenen Person, die rein zirkuläre, wenn überhaupt vorhanden, Ethik
individueller Prägung, die alles entschuldigt und gar für folgerichtig
darstellt? Von den Eroberungskriegen der Neuzeit über den Rassenwahn des
dritten Reiches bis hin zu gierigen Egozentrikern aller Zeiten, denen Macht,
Ruhm, Geld und eigener Vorteil immer schon über alles andere gingen?
Wie Tiberius Caligula im Buch (mit natürlich Kränkungsabsicht) entgegenhält:
Du bist der Enkel des Agrippa, Deine Mutter war die Tochter eines
Emporkömmlings. Der Enkel eines Straßenköters bleibt ein Straßenköter, auch
wenn sich edleres Blut beimischt". Anschaulich bietet das gesamte Buch
letztlich eine Charakteristik der "Straßenköter" aller Zeiten.
Intrigen, Korruption, Mord, Krieg, Verrat, zu allen Zeiten durchaus genutzte
Mittel zum eigenen Vorteil. Besonders aber, und das ist das Perfide, das Becker
im Buch herausarbeitet und zu dem er Seneca als Gegenpol wirken lässt ist das
Selbstbild hinter aller Egozentrik aller Zeiten. Das Abwälzen aller Schuld,
dass sich selbst überzeugen davon, dass es nun eben keinen anderen Weg gibt,
man fast gezwungen ist, den alten Freund, die eigene Mutter, das Volk, die
anderen, egal wen, aus dem Weg zu räumen. Ein Weg, den Agrippina ihrem Sohn
einprägsam vorlebte und an dem sie selber letztendlich zu Grunde ging.
Becker demgegenüber lässt Seneca als seine stärkste Waffe die ironische
Distanz in die Waagschale werfen. Jene Distanz, welche die eigene Person mit in
den Blick zu nehmen versteht. Die ein Bewusstsein für Gut und Böse aus innerer
Einsicht heraus entwickelt und diese auf das große Ganze hin zu übertragen
versteht. Gelassen und mit ethischer Kraft zum Guten, die auch Schaden für die
eigene Person hinnehmen kann, da eben diese nicht abolut gesetzt wird.
Fazit
Sprachlich setzt Becker dieses Stück erfundener Beziehungsgeschichte
hervorragend um, trifft in Stil und Duktus den Tonfall Senecas und bietet in der
fließenden Aufarbeitung der Lebensgeschichte Agrippinas ein solides
unterhaltsames Fundament für die scharfen Gedanken und präzisen Worte Senecas,
vordergründig an Nero, Hintergründig an die gesamte Welt, sprich, an jeden,
der Ohren haben will, zu hören.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 01. November 2011 2011-11-01 15:26:02