Uwe Timm hat einen eindringlichen und eindrucksvollen autobiographischen Roman
über seinen toten Bruder geschrieben. Karl-Heinz Timm, geboren 1924, gestorben
1943 in einem Lazarett in der Ukraine, hat sich der SS-Totenkopf-Division
angeschlossen. Warum hat er dies getan? Diese Frage stellt sich Uwe Timm immer
dringender, als er einen wichtigen Tagebucheintrag seines Bruders entdeckt, der
zu einem Schlüsselerlebnis für ihn wird: "März 21. Brückenkopf über
den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein M.G. (S. 19). Hier
schreibt Timm: "Das war die Stelle, bei der ich...nicht weiterlas, sondern
das Heft wegschloß. Und erst mit dem Entschluß, über den Bruder, also auch
über mich, zu schreiben, das Erinnern zuzulassen, war ich bereit, dem dort
Festgeschriebenen nachzugehen." Erst nachdem alle seine
Familienangehörigen - Mutter, Vater und Schwester - gestorben sind, bringt Uwe
Timm den Mut auf, dieses Buch zu schreiben: "Solange sie [die Mutter, B.N.]
lebte, war es mir nicht möglich, über den Bruder zu schreiben. Ich hätte im
voraus gewußt, was sie auf meine Frage geantwortet hätte. Tote soll man ruhen
lassen. Erst als auch die Schwester gestorben war, die letzte, die ihn kannte,
war ich frei, über ihn zu schreiben, und frei meint, alle Fragen stellen zu
können, auf nichts, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen." (S.
11/12). Wieso ist das Leben des Bruders so schrecklich falsch verlaufen, warum
stieg er zum Idol der Familie auf? Diese Fragen stellt sich Timm - und stellt
eine enorme Ähnlichkeit mit dem 1899 geborenen Vater fest, der sich im ersten
Weltkrieg freiwillig gemeldet hat und zum Militär eingerückt war. Der Impuls,
über den Bruder zu schreiben, ist auch der, sich über eigene - evtl.
autoritäre - Prägungen klarzuwerden: "Der Bruder und ich. Über den
Bruder schreiben, heißt, auf über ihn schreiben, den Vater. Die Ähnlichkeit
zu ihm, meine, ist zu erkennen über die Ähnlichkeit, meine, zum Bruder. Sich
ihnen schreibend anzunähern, ist der Versuch, das bloß Behaltene in Erinnerung
aufzulösen, sich neu zu finden."
Fazit
Uwe Timm ist ein intensiver Erzähler. Er zeigt beispielhaft, dass die
Erinnerung nicht tot ist, dass der Schrecken des Dritten Reiches Familien
spaltet und bis heute fortlebt. Sein Buch spürt dem Nationalsozialismus mit
ungewöhnlichem Blick nach - betroffen und reflektierend zugleich. Dies schrieb
- völlig zu recht - die Rezensentin Gudrun Norbisrath. Dem kann ich mich nach
der Lektüre des ungewöhnlich eindringlichen Buches nur anschließen; ich habe
selten ein Buch gelesen, welches mich so sehr beeindruckt hat. Unbedingt
lesenswert.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 14. Januar 2005 2005-01-14 13:08:02