Das britische Empire im viktorianischen Teeservice
Dieses Buch ist nicht dafür geeignet, abends im Bett gemütliche Leserunden zum
Einschlafen abzuhalten. Das verbietet allein schon der Umfang und das damit
einhergehende Gewicht des Werkes (außer, man möchte damit Unterarmmuskeln
trainieren), vor allem aber wartet Neil MacGregor mit einer solchen Fülle von
Eindrücken, Hinführungen, Folgerungen, seinen betrachteten Objekten
innewohnenden Bedeutungen auf und schafft damit eine solche Anregung des
Geistes, das dieses Buch doch eher in Etappen gründlich genossen und zu Gemüte
geführt werden will.
Denn es sind im Eigentlichen nicht nur 100 Objekte, die MacGregor beschreibt,
sondern tatsächlich die in den Objekten wohnende "Weltgeschichte",
die im Gesamten ein breites und tief reichendes Bild dessen in den Raum setzen,
was Entwicklung und Intention menschlichen Seins seit Jahrhunderten befördert
und ausmacht.
In der Struktur des Buches geht MacGregor auf diesem Weg strikt chronologisch
vor, wobei die ersten Kapitel weite Zeiträume abdecken ("Vom Werden der
Menschen" (Faustkeil und Steinmesser) 2000000-9000 v.C.) über die Eiszeit
(Tonmodell, Maya Statue, Stößel u.a.) 9000-3500 v.C. bis hin zu ersten
Städten und Staaten, dem Einläuten der Zivilisation (Standarte von Ur, Siegel
von Indus, Jadebeil etc.) 4000-2000 v.C. werden dann so langsam die Zeiträume
enger und die historischen Fakten breiter. Die Betrachtung der Statue des Ramses
II. ist dann eines der Objekte, an dem die Wendung zur kultur-zivilisierten
Gesellschaftsform deutlich wird. Nachvollziehbar arbeitet MacGregor heraus, dass
hier nicht das Werk eines einzelnen Künstlers im Vordergrund steht, sondern
"Leistung einer ganzen Gesellschaft", einer Gesellschaft, die zu
klarer Identität gefunden hat im alten Ägypten in den 66 Jahren Regierungszeit
unter Ramses II. Hier, im Jahre 1250 v.C. angelangt sind gerade einmal 170 der
gut 750 Textseiten des Buches verstrichen. Wie im gesamten Buch kurzweilige,
flüssig zu lesende und historisch fundierte Seiten. So legt MacGregor an der
Statue als Objekt eine tiefen Einblick in das Innere der gesamten Gesellschaft
der damaligen Zeit am konkreten Ort vor.
In dieser Arbeitsweise MacGregors liegt begründet, dass jedes der vorgestellten
Objekte über sich selbst hinausweist und als Symbol der konkreten Zeitspanne
vorliegt.
Die eigentlich völlig unspektakuläre Tasse Tee zum Beispiel, zu Zeiten
Grundausdruck der britischen Kultur, zeigt erst bei näherem Hinsehen auf, wie
tief sie das Empire in sich trägt. Der Tee aus Indien, der Zucker aus der
Karibik. Anfangs reiner Luxus, aber mit Festigung des Empire zur essentiellen
Beigabe des alltäglichen Lebens geworden. Eine Entwicklung der
"einfachen" Tasse Tee, die sich am betrachten Objekt eines Teeservices
deutlich ablesen lässt, folgt man den Einlassungen MacGregors. Gerade die eher
Einfachheit dieses konkreten Services zeigt auf, wie breit ein einfaches
Getränk in die Gesellschaft "eingeführt wurde", dabei durchaus zur
sozialen Kontrolle dient, wie viel an geschichtlicher Herleitung hinter einem
solchen Service steht und wie stark die Beförderung der
"Massenkultur" Tee in Britannien gesellschaftlich wirkte (als Symbol
des "neuen britischen Charakters", seriös und freundlich, ohne die
bis dato lange Zeit vorherrschende, alkoholgeschwängerte
"Geselligkeit"). Drei Teile hat das Service und bildet eine ebenfalls
dreiteilige Sozialgeschichte Britanniens ab, von der selbst das Milchkännchen
noch beredetes Zeugnis ablegt.
Fazit
Indem MacGregor sich in eben "hundertfacher" Weise über prägnante
Objekte einer konkreten Zeitgeschichte zuwendet, gelingt ihm eine ganz andere,
neue, erfrischende, vor allem aber leicht haftenbleibende Form des Zugangs zur
Weltgeschichte. In der Verbindung mit den einzelnen Objekten und den
hervorragenden Abbildungen im Buch prägen sich die dazugehörenden Ereignisse
und geschichtlichen Entwicklungen bestens ein. Am Ende des Buches verbleibt
nicht das Gefühl, dass etwas fehlen würde, sondern dass MAcGregor die Essenz
der Menschheitsgeschichte in allen wesentlichen Entwicklungszyklen knapp,
präzise und bestens erfasst hat. Ein wunderbares Geschichtsbuch.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 29. Oktober 2011 2011-10-29 11:13:25