Schräg, eigen und Femme Fatal mit 80
Eigentlich ihr Leben lang war Herbjörg Maria Björnsson, durch einen
Sprachfehler einer Bediensteten "Herr" genannt und durch einen
unglückliches Traditionsverständnis als eine der wenigen Isländerinnen mit
dem Namensbeisatz "Son" versehen bei 1000 Grad.
Das hört auch jetzt mit 80 Jahren als "krankes Klappergestellt", als
"gammelnder Garagengötze" (sie lebt in einer ausgemusterten Garage in
ihrem Krankenbett mit ihrem altersschwachen, aber surfbereiten Laptop samt
diverser "gefakter" Facebookaccounts) keinesfalls auf. Und das nicht
nur wegen der zwei Schachteln Pall Mall am Tag und weil es ihrer Gewohnheit
entspricht, eine deutsche Handgranante aus dem zweiten Weltkrieg unter ihrer
Bettdecke verstaut zu halten. Nein, 1000 Grad scheint die lebenslang vorhandene
"Hitze" der Herbjörg gewesen zu sein. Sei es mit ihren
"Jonskerlen", mit denen diverse Ehen und einige gemeinsame Kinder im
Raume stehen, sei es mit ihren vielfältigen Eigenarten, schon zu Zeiten, in
denen "Emanzipation" ein unbekanntes Fremdwort war, das Leben in
vollen Zügen zu genießen. Mit Wein, (oder härterem), Männern und Gesang. Als
Enkelin des ersten isländischen Präsidenten und zugleich versehen mit dem, was
man als "äußerst loses Mundwerk" bezeichnen könnte, zieht sie ihre
Bahnen durch das letzt Jahrhundert von 1929 an bis zum Jahre 2009 und ist nun,
kurzatmig, bettlägerig, klapprig, todgeweiht immer noch mit scharfer Zunge und
klarem Verstand per Internet in emsigen Kontakt mit der "Welt da
draußen", auch wenn sie immer wieder (assoziativ und nicht unbedingt
chronologisch geordnet) in den "alten Geschichten versinkt".
Da, wo John Lennnon sie küsste und nur deswegen nicht mehr daraus wurde, weil
ihr just in diesem Augenblick so traurig zumute wurde ob des frühen Todes ihrer
ersten Tochter, die im alten von drei Jahren von einem Auto überfahren wurde.
Oder bei der kurzen Begegnung mit Jean Paul Sartre auf dem Gang zur Toilette im
Pariser Bistro, wo Herbjörg aber ganz gerne dem "gierigen Blick"
auswich (und kein gutes Haar an Sartre und Beauvoir lässt).
Ein pralles Leben auch (aber nicht nur) mit der Prominenz der Zeit, immer mit
großer Bugwelle versehen, auf die Härten des Lebens ungefiltert prallend,
zudem mit rabenschwarzem Humor, konsequentem Zynismus und spitzer Zunge
gesegnet. Ein pralles Leben damals und jetzt, in das der isländische Comedian
und Autor Helgason den Leser wie auf einen unermüdlichen Ritt mitnimmt.
Herbjörg, die unter anderem den Namen und das Bild einer ehemaligen
"Miss" sich zu eigen gemacht hat, um dem ein oder anderem Mann bei
Facebook zur eigenen Freude romantische (und darüber hinausgehende) Gedanken zu
entlocken. Die in ihrer Garage daliegt wie eine "bedürfnislose
Leiche", die abwechselnd "auf den Tod oder auf jemanden mit einer
lebensverlängernden Spritze wartet", Herbjörg hat gelebt. Aus dem Vollen.
Aber mit ihr wurde auch gelebt. Mit Härten. Und der Teer und
nikotingeschwängerte Atem reicht immer noch, der drallen Pflegerin Loa zu
erläutern, endlich mal einen "ranzulassen", denn die "Brunftzeit
vergeht". Und wer mit 80 Jahren als Facebookstatus "is killing
dicks" angibt, der wird über Brunftzeiten ja durchaus Bescheid wissen. Mit
allen Wassern gewaschen auch im Blick auf den Rest des Lebens ist Herbjörg
übrigens selbstredend auch. Ihre undankbare Bagage hält sie per Net unter
strikter Beobachtung und liefert sich beileibe nicht hilflos aus.
Fazit
So laufen die Seiten des Buches wie aus einem Guss, mit großem sprachlichen
Witz und jederzeit den Leser faszinierend voran. Schwenken aus der Gegenwart
der 80jährigen ab in die diversen Jahrzehnte eines prall gefüllten Lebens,
dies allerdings eher assoziativ und (zum Glück, denn die Gegenwart ist noch
spannender als all die Erlebnisse der Vergangenheit) nicht als "Buch im
Buch". Trotz des hohen Sprachwitzes und des knochentrockenen Zynismus der
alten Dame, was sie erlebt, was alles passiert, das bildet auch die Härten der
Zeit ab, da finden sich vielfach wunde Stellen der Trauer unter der brettharten
Schale der Greisin. Emotionen, die Helgason in umwerfender Weise in Sprache zu
bannen versteht und die einen das Buch nicht aus der Hand legen lassen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 05. Oktober 2011 2011-10-05 13:07:55