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Hallgrimur Helgason: Eine Frau bei 1000 Grad

Eine Frau bei 1000 Grad

von Hallgrimur Helgason
Verlag: Klett-Cotta Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-608-50112-4

Preis: 4,61 Euro bei Amazon.de [Stand: 21. Dezember 2024]
Schräg, eigen und Femme Fatal mit 80

Eigentlich ihr Leben lang war Herbjörg Maria Björnsson, durch einen Sprachfehler einer Bediensteten "Herr" genannt und durch einen unglückliches Traditionsverständnis als eine der wenigen Isländerinnen mit dem Namensbeisatz "Son" versehen bei 1000 Grad.
Das hört auch jetzt mit 80 Jahren als "krankes Klappergestellt", als "gammelnder Garagengötze" (sie lebt in einer ausgemusterten Garage in ihrem Krankenbett mit ihrem altersschwachen, aber surfbereiten Laptop samt diverser "gefakter" Facebookaccounts) keinesfalls auf. Und das nicht nur wegen der zwei Schachteln Pall Mall am Tag und weil es ihrer Gewohnheit entspricht, eine deutsche Handgranante aus dem zweiten Weltkrieg unter ihrer Bettdecke verstaut zu halten. Nein, 1000 Grad scheint die lebenslang vorhandene "Hitze" der Herbjörg gewesen zu sein. Sei es mit ihren "Jonskerlen", mit denen diverse Ehen und einige gemeinsame Kinder im Raume stehen, sei es mit ihren vielfältigen Eigenarten, schon zu Zeiten, in denen "Emanzipation" ein unbekanntes Fremdwort war, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Mit Wein, (oder härterem), Männern und Gesang. Als Enkelin des ersten isländischen Präsidenten und zugleich versehen mit dem, was man als "äußerst loses Mundwerk" bezeichnen könnte, zieht sie ihre Bahnen durch das letzt Jahrhundert von 1929 an bis zum Jahre 2009 und ist nun, kurzatmig, bettlägerig, klapprig, todgeweiht immer noch mit scharfer Zunge und klarem Verstand per Internet in emsigen Kontakt mit der "Welt da draußen", auch wenn sie immer wieder (assoziativ und nicht unbedingt chronologisch geordnet) in den "alten Geschichten versinkt".

Da, wo John Lennnon sie küsste und nur deswegen nicht mehr daraus wurde, weil ihr just in diesem Augenblick so traurig zumute wurde ob des frühen Todes ihrer ersten Tochter, die im alten von drei Jahren von einem Auto überfahren wurde. Oder bei der kurzen Begegnung mit Jean Paul Sartre auf dem Gang zur Toilette im Pariser Bistro, wo Herbjörg aber ganz gerne dem "gierigen Blick" auswich (und kein gutes Haar an Sartre und Beauvoir lässt).

Ein pralles Leben auch (aber nicht nur) mit der Prominenz der Zeit, immer mit großer Bugwelle versehen, auf die Härten des Lebens ungefiltert prallend, zudem mit rabenschwarzem Humor, konsequentem Zynismus und spitzer Zunge gesegnet. Ein pralles Leben damals und jetzt, in das der isländische Comedian und Autor Helgason den Leser wie auf einen unermüdlichen Ritt mitnimmt.

Herbjörg, die unter anderem den Namen und das Bild einer ehemaligen "Miss" sich zu eigen gemacht hat, um dem ein oder anderem Mann bei Facebook zur eigenen Freude romantische (und darüber hinausgehende) Gedanken zu entlocken. Die in ihrer Garage daliegt wie eine "bedürfnislose Leiche", die abwechselnd "auf den Tod oder auf jemanden mit einer lebensverlängernden Spritze wartet", Herbjörg hat gelebt. Aus dem Vollen. Aber mit ihr wurde auch gelebt. Mit Härten. Und der Teer und nikotingeschwängerte Atem reicht immer noch, der drallen Pflegerin Loa zu erläutern, endlich mal einen "ranzulassen", denn die "Brunftzeit vergeht". Und wer mit 80 Jahren als Facebookstatus "is killing dicks" angibt, der wird über Brunftzeiten ja durchaus Bescheid wissen. Mit allen Wassern gewaschen auch im Blick auf den Rest des Lebens ist Herbjörg übrigens selbstredend auch. Ihre undankbare Bagage hält sie per Net unter strikter Beobachtung und liefert sich beileibe nicht hilflos aus.
Fazit
So laufen die Seiten des Buches wie aus einem Guss, mit großem sprachlichen Witz und jederzeit den Leser faszinierend voran. Schwenken aus der Gegenwart der 80jährigen ab in die diversen Jahrzehnte eines prall gefüllten Lebens, dies allerdings eher assoziativ und (zum Glück, denn die Gegenwart ist noch spannender als all die Erlebnisse der Vergangenheit) nicht als "Buch im Buch". Trotz des hohen Sprachwitzes und des knochentrockenen Zynismus der alten Dame, was sie erlebt, was alles passiert, das bildet auch die Härten der Zeit ab, da finden sich vielfach wunde Stellen der Trauer unter der brettharten Schale der Greisin. Emotionen, die Helgason in umwerfender Weise in Sprache zu bannen versteht und die einen das Buch nicht aus der Hand legen lassen.
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne
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Vorgeschlagen von Lesefreund [Profil]
veröffentlicht am 05. Oktober 2011

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