Wo verliert sich die Zeit?
Vor einiger Zeit hat Alex Rühle sein "Ohne Netz" vorgelegt, einen
sechsmonatigen Selbstversuch ohne Handy und Internet. Interessanterweise besucht
Florian Opitz in seinem Buch unter anderem auch jenen Alex Rühle im Zuge seiner
eigenen Recherchen aus seinen eigenen Lebensbeobachtungen heraus.
Und dieser "Besuch im Buch" macht Sinn, denn auch daran zeigt sich,
dass das Phänomen, im eigenen Empfinden einfach immer zuwenig Zeit zu besitzen
eine enge Verbindung aufweist zur ständigen und fortschreitenden
Digitalisierung der Welt. Und diese wiederum nicht nur Ursache von
"Beschleunigung" (Speed) ist, sondern vor allem auch Folge eines
strukturellen Problems: "Beschleunigung" gilt als Kernkompetenz für
das wirtschaftliche und individuelle Leben. Oder, wie es eine der befragten
Personen im Buch zu Gehör bringt: "Nicht der Starke schluckt den
Schwachen, sondern der Schnelle den Langsamen".
Florian Opitz macht sich auf. In seinem Leben, in dem der empfundene Mangel an
Zeit ein immer größer werdendes Problem darstellt (vor allem, seitdem Opitz
Vater geworden ist) und sucht nach Spuren des "Zeitverlustes". Wo
bleibt sie denn genau, die Zeit? Und was kann er persönlich dagegen
unternehmen?
Seine erste Station, ein Seminar mit Lothar J. Seiwert erweist sich, mit
Verlaub, als fauler Zauber. Noch nicht einmal die Botschaft der von Seiwert im
Vortrag eingestreuten mäßigen Zaubertricks erschließt sich Opitz. Der im
Übrigen aus kundigem Mund später im Buch vom Zeitenforscher Karlheinz Geißler
darin bestätigt wird. Zeitmanagement sei eher nicht der Königsweg zu einem
subjektiven "Mehr" an Zeit. Aber auch ein auf Burnout spezialisierte
Psychologe kann Opitz nicht wirklich weiterbringen. Gut also, dass er sich dann
der "anderen" Seite zuwendet, den "Zeitbeschleunigern" in
Form der Unternehmensberatungen und Effizienzsteigerer. Trotz so mancher
Worthülsen spricht dieses Kapitel eine intensive Sprache. Schon in der
einjährigen Wartezeit auf einen 30 Minuten Termin bei der durchstrukturierten
Unternehmensberaterin und dann natürlich auch die Gesprächsinhalte selbst
zeigen auf, dass letztlich zwei Pole und Haltungen nicht vereinbar gegeneinander
stehen. Auf der einen Seite die wirtschaftlich geprägte Entwicklung nach immer
mehr Effizienz und Steigerung der Nutzung der Zeit (Zeit ist Geld) und auf der
anderen Seite das Bedürfnis, ja die Notwendigkeit zu biologischer (analoger)
zur Ruhe, Muße und zum subjektiv erfüllten Erleben der Zeit.
Das übrigens ist eigentlich die Kernbeobachtung, der Opitz in seinem Buch der
vielen Stationen nachgeht. Immer mehr zu tun, fast ständig "on" zu
sein und subjektiv immer weniger zu wissen, wo denn die Zeit eigentlich
geblieben ist. Kapitelweise sucht Opitz antworten beim Zeitmanager, beim
Therapeuten, beim Zeitforscher, beim digitalen Fasten, im Rahmen der
Unternehmensberatung und an vielen Orten mehr. Ohne wirklich abschließend
fündig zu werden. Viele Einzelteile fügt er so zusammen und lässt dieses
Puzzle begleiten jeweils zum Abschluss jedes Besuches und Interviews von Hartmut
Rosa, Professor der Soziologie, der den Umgang mit der Zeit und die
"Zeittaktung" intensiv zum Gegenstand seiner Forschung gemacht hat.
Ein spannendes Unterfangen im Rahmen eines Problems, dass nicht nur subjektiv,
sondern tatsächlich strukturell gesellschaftlich vorliegt, wie sich nach der
Lektüre klarstellt. Eine "Suche nach der verlorenen Zeit", die keine
"Universalformel" an den Tag bringen wird, aber ein Einladung zur
intensiven, persönlichen Reflektion darstellt. Dazu, "ein Bewusstsein für
unsere Lebensumstände zu entwickeln" und das bedeutet im ersten Schritt,
erst einmal genau hin zu schauen. Ein Schauen, zu dem dieses Buch in guter Form
anregt und anleitet, vielfache Informationen erbringt und miteinander verbindet,
die das Problem ständig erhöhten "Zeitdrucks" auf die Füße stellt.
Wie Rosa im Buch sagt: "Wir bewegen uns in einer Welt, die sich in allen
Dimensionen ständig ändert und schneller ändert". Eine Analyse, die
klarstellt, dass es breiterer Lösungsansätze bedarf, will man das kollektive
Ausbrennen einer Gesellschaft verhindern.
Fazit
In flüssiger und leicht lesbarer Form nimmt Florian Opitz den Leser mit auf
eine Reise zu Fachleuten aller Seiten zum Thema "Zeit". Zu Gegnern,
Befürwortern und jenen, die versuchen, einen Ausgleich zu finden zwischen
Beschleunigung und menschlicher Sehnsucht nach Muße und Verarbeitung all
dessen, was geschieht.
Ein wichtiges Thema, anregend dargestellt, ohne erhobenen Zeigefinger und ohne
sich eine universale Lösung anzumaßen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 01. Oktober 2011 2011-10-01 13:05:22