Maeve ist Meisterin der Killerphrasen. Dysfunktionale Erklärungsmuster würde
ihre Therapeutin Nancy Maeves chronisch negative Wertungen vermutlich nennen. Ob
Maeve in den Greyhound-Bus steigt, um ihren Vater in Seattle zu besuchen, oder
ob ein Fahrer beim Autofahren telefoniert – Maeve vermutet stets das
Schlimmste und hat dabei die Macht der Statistik auf ihrer Seite. Ein leicht
schiefes Haus wird sicher beim nächsten Erdbeben zusammenbrechen, und die
Gefahr von Bettwanzen im Haus ist nicht zu unterschätzen. Einen realistischen
Kern gibt es in einigen ihrer Ängste dennoch; denn selbst jemand ganz ohne
Angststörung sollte dunkle Ecken in Großstädten wie Vancouver besser meiden.
Medikamente gegen ihre Angststörung soll Maeve auf Wunsch ihrer Eltern erst
nehmen, wenn sie erwachsen ist.
Als Maeves Mutter sich für ein halbes Jahr für ein Gesundheitsprojekt in
Haiti meldet, eskalieren die Dinge aus Maeves Sicht. Was könnte in Haiti nicht
alles passieren! Sie muss für diese Zeit zu ihrem Vater ziehen, der mit seiner
derzeitigen Partnerin gerade ihr drittes Kind erwartet. Falls Maeve es in
Seattle nicht aushält, hat sich für alle Fälle Nachbar Dan bereit erklärt,
sich um Maeve zu kümmern – Dan kann sogar kochen. Claire, Vaters neue
Partnerin, reagiert auf Maeves Probleme unkompliziert, ohne Maeves Ängste zu
bagatellisieren. In ihrem kleinen Halbbruder Owen findet Maeve sogar eine
verwandte Seele. Doch leider benehmen Vater und Stiefmutter sich nicht wie
Erwachsene. Claire beharrt darauf, ihr drittes Kind wieder zuhause zur Welt zu
bringen, ausgerechnet in einer Phase, in der ihr Partner sich immer seltener in
der Familie sehen lässt. Da er trockener Alkoholiker und ehemaliger Drogenuser
ist, gibt sein Verhalten berechtigten Anlass zur Sorge. Zusätzlich zu Maeves
eigenen Problemen muss sie nun dringend den Erwachsenen klarmachen, dass Claires
Hausgeburts-Vorstellung ein Elternproblem und kein Tochterproblem ist.
Maeve soll indessen mit den sechsjährigen Zwillingen per Fähre zur Oma reisen
– und riskiert unterwegs mehr als einen Blick auf eine Straßenmusikerin, die
ihr schon vorher aufgefallen war. Dass Maeve Frauen liebt, nimmt ihre erweiterte
Familie für selbstverständlich und Maeve scheint zumindest in diesem Punkt
mit sich im Reinen zu sein. Während das erste Date der Mädchen naht,
eskalieren die Dinge in Maeves Familie …
Maeve Ängste lassen sie ständig zwischen normaler Vorsicht und zwanghaften,
therapiebedürftigen Vorstellungen balancieren. Für Leser des Buches ergeben
sich daraus Wechselbäder zwischen Hoffen, dass Maeve ihre Ängste überwindet,
und Ernüchterung, dass eine Verhaltenstherapie allein bei ihr offenbar keinen
Erfolg hat. Eingebettet und unterstützt von einem Netz aus Nebenfiguren (Oma,
Geschwister, Nachbarn), steht Maeve mit ihrem Problem nicht ständig im
Mittelpunkt, was den Plot sehr ausgewogen wirken lässt. Viele Personen geben
Maeve jedoch Anlass für neue Ängste, was im schlimmsten Fall passieren
könnte.
Fazit
Maeves Erlebnisse in ihrer erweiterten Patchwork-Familie haben mich positiv
überrascht. So wie Maeve zwischen Angst und Normalität balanciert, bewegt
sich auch die Handlung zwischen Ernst und Heiterkeit. Maeve löst ihr Problem
am Ende aus eigener Kraft (was ich im Jugendbuch sehr wichtig finde) und
erkennt, dass jeder Mensch ihre Angststörung auf seine persönliche Art
beurteilt.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 17. November 2017 2017-11-17 14:41:44