Hervorragendes Debüt!
"Er darf die 80 Cent nicht bezahlen, sonst stirbt er".
Die Mutter des Polizisten Tommaso di Barbara liegt in Venedig im Hospiz im
Sterben. Die betreuende Ordensfrau weiß um die fast mediale Möglichkeit, ein
kleines Stück in die Zukunft zu schauen in der Phase zwischen Tod und Sterben
und nimmt sich fest vor, dem Polizisten die Botschaft zukommen zu lassen. 80
Cent nimmt die sterbende Mutter zudem noch in die Hand, um sich daran erinnern
zu können, ihren Sohn zu warnen. Doch sie stirbt, bevor er vor Ort ist, auch
die Ordensfrau ist nicht im Haus und so nimmt Tommaso das Geld, unwissend,
wofür es gedacht war. Und der Leser verfolgt von diesem Augenblick im letzten
Drittel des Buches hin nun, unter anderem, atemlos mit, worin die Gefahr wohl
bestehen mag.
Dies ist nur einer der Erzählfäden, die in vielfacher Weise sich durch das
Buch winden, bei denen das Autorengespann, welches sich hinter dem Pseudonym
Kazinski verbirgt, wie so häufig Spuren auslegt, diese zugleich verwischt und
in der Vielzahl der Eindrücke fast untergehen lassen. Spuren, die erst ganz am
Ende der Lektüre in einer fulminanten Weise zusammenfallen und eine hoch
intelligente, sorgfältig konstruierte, nie langweilige und dennoch in fast
abgeklärter Ruhe erzählte Geschichte in Perfektion abrunden.
Selten hat ein Ende eines Buches in solcher Weise mehrfach überraschen können,
wie es dem dänischen Autorenduo Klarlund und Weinreich hier gelingt. Auch die
Einordnung des Buches als "Thriller" erfasst das Wesen des Buches
nicht in völliger Form. Am ehesten lässt sich der Aufbau, die Erzählweise und
eben vor allem das Ende noch vergleichen mit "The sixth sense", auch
wenn das Sujet trotz der Bezüge zu "Nahtoderlebnissen", sich doch
stark vom Film unterscheidet. In der Komposition des Buches aber liegt dieser
Vergleich durchaus nahe.
Laut der Überlieferung des Talmud existieren zu jeder Zeit seit Beginn der
Schöpfung, 36 Gerechte, welche die Menschheit schützen. Jene Auserwählten
haben einige Gemeinsamkeiten, wissen aber weder von ihrer Erwählung noch kennen
sie einander.
Was passiert, wenn diese Gerechte, einer nach dem andere von der Erde
verschwinden? Und warum sollte das jemand tun?
Genau dies scheint nämlich zu geschehen, wie als erster Tommaso di Barbara in
Venedig mutmaßt. Weltweit sterben Menschen auf gleich obskure Weise. Ihre
einzige Gemeinsamkeit zunächst ist, dass sie alle in irgendeiner Art und Weise
Gutes getan haben. Sowohl die Todesursache wie auch die Begleitumstände sind in
solcher Weise ominös, dass noch nicht einmal die eigentliche Todesursache
erkannt wird, vor weniger ein Fremdeinwirken nachgewiesen werden kann. Dennoch
schaltet Tommaso die Polizei in Kopenhagen ein. Er vermutet (aus den falschen
Gründen), dass dort der nächste Todesfall, Mord, was auch immer, stattfinden
könnte. So aber wie er selbst ein Polizist "auf dem Abstellgleis
ist", so nimmt in Kopenhagen auch einer die Fäden in die Hand, der im
Kollegenkreis schon als ausgemustert gilt. Niels Bentzon aber ist einer, der
nicht locker lässt, wenn ihn ein Fall packt und dieser Fall packt ihn.
Spätestens da, wo er in Person einen Mord verhindert.
Gut, dass mit der Wissenschaftlerin Hannah, eine ob des Selbstmordes ihres
Sohnes innerlich gebrochene Frau, sich jemand an seine Seite stellt, welche die
Wissenschaft mit der Metaphysik in Einklang zu bringen versteht, die
mathematisch beginnt, das Rätsel tatsächlich zu lösen, das sich hinter den
scheinbar wahllosen Orten und Ereignissen verbirgt.
Ein Rätsel, welches das metaphysische Element intensiv mit der Wirklichkeit
verzahnt. Gut, dass sich Hannah (eine der vielen nebensächlichen Spuren im
Übrigen) irgendwann die Funktionsweise einer Pistole erläutern lässt, auch
wenn der Ursache der Todesfälle kaum mit Kugeln begegnet werden kann. Oder auch
gerade mit der Nutzung einer Waffe.
Nicht auf Aktion ist das Buch hin angelegt, auch wenn die ein oder andere Szene
(die verzweifelte Suche nach dem nächsten Opfer im Krankenhaus, der versuchte
Mord an einem vielleicht "Gerechten" in Kopenhagen und andere Szenen)
ein hohes Tempo und eine intensive Spannungsatmosphäre aufweisen. Die
Verbindung der vielfachen Fäden, die Erläuterung alter Überlieferungen und
wissenschaftlicher Erkenntnisse aus Mathematik, Physik, Metaphysik und
Geohistorie sind es, zusammen mit dem jederzeit überraschenden Fortgang der
Ereignisse und dem fulminanten Ende, die dieses Buch zu einem kompakten und
hervorragenden Leseerlebnis gestalten.
Fazit
Das Buch bietet eine kreative und originäre Geschichte, eine dichte
Atmosphäre, intensiv gezeichnete Figuren und ein Ende, in dem alle Fäden sich
in kaum vorhersehbarer Weise zusammenfügen und ein faszinierend komplexes Bild
letztlich ergeben. Ein Bild, mit dem das Buch selber jene Grundthese in sich
darstellt, die als Ausgangspunkt zu Grunde liegt: Das alles mit allem
zusammenhängt. Wie das aber zusammenhängt, was das Ziel der Todesfälle
eigentlich ist, das führen die Autoren sprachlich, in der Konzeption und in den
vielfachen Erläuterungen metaphysischer Phänomene in hoher Qualität vor
Augen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 24. September 2011 2011-09-24 12:31:23