Die Entwicklungen nach der Stunde Null
"Zugunsten der Deutschen würde ich nicht mal auf ein halbes Brötchen
verzichten", sagt ein befragter Brite gegen Ende des Jahres 1945. Und das
lag nicht nur an der eigenen Not Englands und der strikten Rationierung dort in
der Nachkriegszeit. Nach der Kapitulation Deutschlands lag halb Europa in
Trümmern, fand sich ein riesiges Kerngebiet Europas, allem voran Deutschland
selbst, als mehr oder minder "weißer Fleck" auf der Landkarte. Und es
gab keinen Plan, das vor allem.
Dieser "Zeitenwende" nimmt sich Frederick Taylor in seinem Buch
nüchtern, sachlich und in durchgehender Berichtsform an. Bietet etwas (eher
wenig) an Bildmaterial, lässt Zeitzeugen der Sieger und der Besiegten in
Protokollausschnitten und Interviewnachzeichnungen zu Wort kommen und verschafft
dem Leser auf diese Weise zunächst einen guten Einblick in den Zustand jener
Monate und Jahre, ein zustand zwischen "Sieg- und Beutementalität"
der Sieger, zwischen florierendem Schwarzmarkt mit Kaffee- und
Zigarettenwährung (und der des eigenen Körpers, so man eine einigermaßen
ansehnliche deutsche Frau zu jener Zeit war), zwischen Infektionen mit
Geschlechtskrankheiten (zahlreich) die zu solch merkwürdig anmutenden Aktionen
wie "Verbrecheralbummärschen" führten (alliierte, infizierte
Soldaten marschierten durch die Stadt, damit sie den Frauen durch Ansehen
bekannt waren), zwischen Drangsalierung, Kälte aber auch Fraternation unter den
beteiligten Mächten in Deutschland.
Zwei Entwicklungslinien vor allem aber sind es, welche Taylor im Buch intensiv
und nachvollziehbar nachzeichnet, die weitreichende Folgen für die nächsten
Jahrzehnte europäischer und transatlantischer Geschichte haben sollten.
Zum einen legt Taylor den Weg der Entnazifizierung offen, von zunächst eher
ungesteuerten und ungeordneten Versuchen über die Entwicklung eines
Rechtsansatzes und einer Systematik, sicherlich mit gipfelnd in den Nürnberger
Prozessen. Dies mit dem Ziel, möglichst schnell die Bevölkerung aus den
Fängen der zerstörerischen Ideologie zu lösen und damit die Grundlagen für
eine demokratische Entwicklung zu schaffen.
Zum Zweiten verweis Taylor fundiert auf die Folgen der sich rasch abkühlenden
Verhältnisse zwischen den westlichen Besatzungsmächten einerseits und der
Sowjetunion andererseits. Eine Abkühlung und Verschärfung im Klima, die, folgt
man Taylor, die wichtigste Ursache einer konstruktiven Restauration Deutschlands
durch die westlichen Siegermächte war. Getrieben von der Dynamik der zunehmend
feindseligen Haltung zwischen Ost und West wurde zielgerichtet daran gearbeitet,
Deutschland wieder aufzubauen und als wichtigen Verbündeten und wichtiges
Bollwerk gegenüber der Sowjetunion überlebensfähig zu gestalten. Pläne der
Endindustrialisierung oder andere radikale Ideen verschwanden so doch recht
schnell in den Schubladen und der Weg für eine eigenständige, stärkende
wirtschaftliche und politische Entwicklung wurde geebnet und unterstützt.
Taylor nimmt sich eines hoch interessanten Zeitraumes ins einem Buch an und
vollzieht in nachvollziehbaren Schritten die Entwicklung von der Kapitulation
Deutschlands über die massiven Bedrängnisse der Menschen in der Folgezeit bis
hin zu sich entfaltenden konstruktiven Plänen und Strategien der Westmächte
fundiert nach. Ebenso interessant sind seine Einlassungen aber auch im Blick auf
die sowjetische Besatzungszone und die Entwicklung sozialistischer Strukturen im
Osten Deutschlands.
Im Stil und Tonfall leider oft etwas zu trocken und distanziert, es braucht eine
gewisse Konzentration und ein Interesse am Thema, um dem Buch dann gut folgen zu
können. Ebenso wäre eine Ausweitung des Bildmaterials wünschenswert gewesen,
dies gerät im Buch ein wenig zu kurz.
Fazit
Fundiert recherchiert, umfassend dargelegt und die wesentlichen
Weichenstellungen für die folgenden Jahrzehnte darlegend, bietet Frederick
Taylor trocken und nüchtern einen umfassenden Einblick in die entscheidenden
Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkrieges in Deutschland, spart einzelne
Schicksale nicht aus, bietet vor allem aber eine Erläuterung der großen Linien
der Entwicklungen und reiht sich damit gut ein in die Liste der jüngeren
Literatur über die Zeit des zweiten Weltkriegs wie Blokada oder Bloodlands.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 23. September 2011 2011-09-23 12:31:06