Yiyun Li, die seit 1996 in den USA lebt und in englischer Sprache schreibt,
baut Lesern aus dem Westen mit ihren Erzählungen eine Brücke zur chinesischen
Kultur. Ihre Protagonisten sind in Generationskonflikten gefangen, die uns
vertraut sind und dennoch chinesische Eigenheiten zeigen.
Als Großmutter Li in der Erzählung "Überzählig" in Rente geschickt
wird, weil ihr Betrieb zahlungsunfähig wurde, ist sie noch viel zu jung für
ein Dasein als tratschende Nachbarin. Die kurze Ehe mit einem wohlhabenden,
pflegebedürftigen Rentner bringt Li keine Reichtümer, aber eine Tätigkeit,
die sie glücklich macht. Bei der Betreuung von Internatsschülern begegnet die
kinderlose Li obszönem Reichtum und Paaren, denen niemand beigebracht hat, ihre
Kinder zu lieben. Zwischen der alten Frau Li und dem einsamen Jungen Kang
ensteht eine rührende Freundschaft.
"Nach einem ganzen Leben" erzählt vom Schicksal des Ehepaars Su, das
sorgsam die Existenz einer schwerbehinderten Tochter verheimlicht. Für den
pensionierten Herrn Su scheint es unmöglich, Freundschaften zu schließen, ohne
sein Geheimnis zu verraten. Die Belastung durch die Pflege einer behinderten
Erwachsenen ohne professionelle Hilfe beschreibt Yiyun Li schonungslos als eine
der ersten ins Deutsche übersetzten chinesischen Autoren.
"Unsterblichkeit" beschreibt chinesische Geschichte am Beispiel der
kaiserlichen Eunuchen. Der Dienst für den Kaiser war eine besondere Ehre für
die jungen Männer, die alle aus demselben Ort stammten; ihr Einkommen
ermöglichte ihren Brüdern die Heirat. Dynastien und Hungersnöte kommen und
gehen, bis eines Tages im Dorf ein Baby mit dem Gesicht eines Diktators geboren
wird. Die Mutter des Kindes glaubt, sie hätte das Aussehen ihres Kindes durch
Betrachten eines Portraits während der Schwangerschaft verursacht. Als
Erwachsener arbeitet der Mann mit dem bekannten Gesicht als Imitator. Ist er
allein durch seine Gesichtszüge ein großer Mann? Sind mächtige Männer
beliebig austauschbar? Die Welt hat sich verändert, Chinas Gesellschaftssystem
interessiert im Ausland kaum, die Geschichte des Mannes wird auch nach seinem
Tod kein Ende haben.
Ein junge Paar aus der Mongolei ist in Nebraska (Die Prinzessin von Nebraska)
mit dem Greyhound-Bus unterwegs. Boshen, der Mann, hat als Homosexueller durch
eine Scheinehe China verlassen können. Durch seine Aids-Kampagne und Kontakte
zu Journalisten hatte er sich in seiner Heimat in Schwierigkeiten gebracht. Sein
Partner, ein junger Tänzer der Peking-Oper, musste in China zurückbleiben.
Sasha, das Mädchen, erwartet von dem jungen Tänzer Yang ein Kind. Ganz dem
Pretty-Woman-Mythos verfallen, sieht sie nicht ein, weshalb sie sich nun dafür
einsetzen soll, den Vater ihres Kindes aus China herauszuholen. Hauptsache, sie
ist in den USA, alles andere wird sich finden.
Sansan aus "Liebe auf dem Marktplatz" unterrichtet Grundschullehrer
und ist mit Mitte dreißig unverheiratet. Ihr Single-Dasein ist Anlaß für
moralischen Druck ihrer Mutter, sich endlich als dankbare, gehorsame Tochter zu
zeigen und zu heiraten. Sansans erste Liebe Tu verließ sie und emigrierte in
die USA. Nach einer Zweckehe (auch hier ging es darum, eine gefährdete Person
in die USA zu bringen) ist Tu nun wieder allein. Sansan fühlt sich wie eine
Ware, die von ihrer Mutter an Tus Mutter verhökert wird. Sansans Mutter mit
ihrem kleinen Verkaufsstand am Bahnhof verkörpert das traditionelle China.
Obwohl sie ihren Lebensunterhalt selbst verdient, kann sie sich keine
hochqualifizierte, allein lebende Tochter vorstellen. Yiyun Li hinterfragt hier
die Ansprüche von Eltern an ihre Kinder. Wer ist den Eltern gegenüber
ehrerbietig - wer notgedrungen einer arrangierten Ehe zustimmt oder wer im
Ausland lebt und den alten Eltern eine Wohnung kauft?
Auch in "Der Sohn" will eine Mutter ihren Sohn als gute Partie unter
die Haube bringen. Hans Mutter hat erst an den Kommunismus geglaubt, nun gehört
sie der von der kommunistischen Partei zugelassenen katholischen Kirche an.
Einer Kirche, die die Partei anerkennt, misstraut Han. Ob Gott sich Han
gegenüber anders verhalten wird als chinesische Eltern ihren Kindern
gegenüber, wird sich noch zeigen müssen.
Herr Shi in der Erzählung, deren Titel die deutsche Ausgabe des Buches trägt,
fühlt sich ebenfalls dafür zuständig, seine erwachsene Tochter unter die
Haube zu bringen. Shi, der als Rentner in den USA zu Besuch ist, glaubte bisher
hinter seinem Schweigen eine peinliche Wahrheit verbergen zu können. Nun muss
er erkennen, dass alle seine Lügen durchschauten.
In "Das Arrangement" leidet das Mädchen Ruolan darunter, dass ihr
Vater als Vertreter selten zu Hause ist. Auch Geschenke können die wachsende
Entfremdung der Familienmitglieder nicht überdecken. Da Ruolans Mutter seit
langem krank ist, soll die Tochter sich im Notfall an "Onkel Bing"
wenden, der als Dorfschul-Lehrer arbeitet. "Eine Frau zu sein, ist an sich
schon eine Krankheit", wirft die Mutter Ruolan an den Kopf. Eine schwache,
leidende Frau wie ihre Mutter will Ruolan auf keinen Fall werden. Onkel Bing,
der Ruolans Mutter seit ihrer Kindheit kennt, scheitert bei seinen
Vermittlungsversuchen an der hartnäckigen Verhärtung in der Familie und der
Unfähigkeit von Mutter und Tochter miteinander zu sprechen.
Fazit
In den meisten Erzählungen Yiyun Lis kommt es zu Familienkonflikten zwischen
erwachsenen Kindern und ihren Eltern, die noch mit der Sicherheit der eisernen
Reisschüssel aufgewachsen sind und Mao verehrten. Die Ansprüche der Mütter an
Dankbarkeit und Gehorsam ihrer Kinder lassen sich mit deren Glücksvorstellungen
und dem Wunsch auszuwandern kaum vereinbaren. "Der Sohn"und "Die
Prinzessin von Nebraska" enthüllen in erschütternder Weise die Situation
Homosexueller zwischen Verleugnung und Emigration. In zeitgemäßer Sprache
bringt die Autorin soziale Probleme (wie die mangelnde Unterstützung pflegender
Angehöriger, vernachlässigte Kinder neureicher Eltern, Homosexualität,
Korruption auf lokaler Ebene) zur Sprache ohne zu polarisieren. Yiyun Lis
Familiengeschichten, die vor circa 20 Jahren spielen, lassen chinesischen Alltag
unverschlüsselt lebendig werden.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 26. Juli 2011 2011-07-26 10:02:17