Mit dem "Klavierstimmer" hat der Autor Pascal Mercier erneut einen
Roman geschaffen ("Perlmanns Schweigen", "Nachtzug nach
Lissabon"), auf den sich der Leser zunächst erst mal einlassen muss, um
dann mit fortschreitender Seitenzahl umso tiefer in seinen Bann gezogen zu
werden. Rasante Aktionen darf der Leser nicht erwarten, eher zahm und
einfühlsam wird er in eine Atmosphäre hineinmanövriert, die ihn bald nicht
mehr loslassen wird. Dabei ist es unerheblich, ob sich der Leser in dem zugrunde
liegenden Milieu (im vorliegenden Fall das der klassischen Musik, besonders der
Oper) auskennt oder ob es ihm fremd ist. Es wird sich ihm erschließen. Das
Zwillingspärchen Patricia und Patrice, die als Erwachsene bereits lange und
weit von zuhause entfernt leben, erfahren, dass ihr Vater einen berühmten
Opernsänger erschossen hat. Sie eilen zu ihren Eltern und erfahren bei ihren
Recherchen sehr viel über sich selbst und über das Leben ihrer Eltern.
Der Autor bedient sich bei der Erzählung der Lebensgeschichten einer eher
ungewöhnlichen Erzählmethode. Die Geschwister haben ihre Recherchen nämlich
akribisch in Hefte geschrieben, die sie sich gegenseitig zusenden. Sie sprechen
sich in Briefen in zweiter Person an, was allein für ein Roman schon
ungewöhnlich ist. Auf diese Weise bewegt sich der Leser aber in den Köpfen der
Erzähler, deren Hefte im steten Wechsel, eines nach dem anderen vorgestellt
werden. Er scheint in deren Gedanken zu dringen und die intimen Gespräche von
Bruder und Schwester zu belauschen.
Zwischendurch wird immer wieder in die Position eines Erzählers in dritter
Person gewechselt. Das geschieht immer dann, wenn die Geschwister von ihren
Gesprächen mit Vater und Mutter berichten und diese dann im Dialog mit ihren
Kindern aus ihrem eigenen Leben beziehungsweise aus dem des Ehepartners oder
über ihn erzählen.
Mit dieser Erzählmethode gelingt es dem Autor, dem Leser eine sich immer wieder
wendende Geschichte aus vier verschiedenen Perspektiven näher zu bringen. Der
Mord an dem Opernsänger ist dabei nur das Mittel zum Zweck, der darin besteht,
höchst unterschiedliche Menschen in all ihren Facetten, Details, Marotten und
sonstigen Eigenschaften vorzustellen. Die Wendungen in der Struktur der Familie
und dem Geschehen, welches dem Schreiben der Notizen unmittelbar vorausgegangen
ist, kommen meist überraschend und verblüffen umso mehr. Schritt für Schritt,
aber mit zunehmendem Tempo wird der Leser über die Familienverhältnisse, über
die Umstände, die zum Tod des Opernsängers führten und über den
tatsächlichen Ablauf des Geschehens aufgeklärt. Was sich für manch einen
Krimienthusiasten anfangs noch langatmig anfühlt, ist am Ende eine packende
Geschichte, die man kaum aus der Hand legt, bevor man die letzte Seite nicht
gelesen hat.
Mit Interesse verfolgt man, was die Zwillinge über sich, über ihre Eltern
erfahren, über die Kälte in der Familie, die in ihrer Tiefe doch einen
unendliche Wärme darstellt. Ein Buch voller Gefühle, voller auf und ab, voller
hin und hergerissen sein. Dabei gelingt dem Autor am Ende noch ein Schwenk zum
humorigen, wenn Patrice von seinen ersten Jahren in Chile erzählt und die Macht
eines Übersetzers entdeckt und feststellt, dass er dabei wohltätig sein kann,
genauso, wie er diejenigen Ausländer mit seinem Dolmetschen unmöglich macht,
deren Nasen ihm nicht passen.
Fazit
Lesevergnügen für viele Stunden!
Vorgeschlagen von Detlef Knut
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veröffentlicht am 23. Juli 2011 2011-07-23 16:23:17