526 Blätter, in feinster, kleinster, sorgsamster, geheim haltendster Weise
überschrieben, hinterlässt R. Walser nach seinem Tod 1956. Seitdem gelten sie
als die rätselhaftesten Manuskripte deutschsprachiger Literatur. Rätselhaft,
denn der Dichter Walser verstummt 1933, nachdem er seine Bleistiftgebiete
"fertig" hat. Rätselhaft, weil die Sütterlinbuchstaben von winziger
Größe 1925 (ca. 6 mm) zur unglaublichen Größe von 1 mm kommen (1933).
Rätselhaft, weil man solche Kleinstarbeit keinem Menschen zutraut, auch keinem
Schweizer. Walsers Sprache zu benennen ist weder in wenigen noch in vielen
Worten möglich, er hat, einfach gesagt, geschrieben, was er geschrieben hat. Im
zweiten Text des ersten Bandes liest sich das so: "Ich schlafe so brav. Ich
glaube, ich kann sagen, ich sei im Schlaf das reine Schaf. Ich finde übrigens
rührend schön, wie eine gewisse Judith vor nicht gar so schrecklich langer
Zeit auf den Einfall hat kommen müssen, zu erklären: er kann brav küssen. Sie
entnahm diese Gewissheit aus meinen bisherigen Büchern, deren Inhalt sie in
ihren stillen Stunden zu ihrem unfasslichen Vergnügen an die holde Seele zog
und sog." - Walser typisch, d. h. banal und phantastisch, sprunghaft und
hart an der Szene, dichtend und Dichtung aufhebend, assoziativ und befremdend.
Fazit
Mit der vollständigen Übersetzung aller erhaltenen Mikrogramme ist dem
Suhrkamp-Verlag ein großer Wurf gelungen; der "Räuber"-Roman und die
"Felix"-Szenen zum Beispiel lassen sich nicht wegdenken aus
literarischem Sein; und die seltsamen Spekulationen, wonach ein längst
heilbedürftiger Walser seine letzten Texte verfasste, sind widerlegt,
Dürftiges findet man in ihnen nicht, Walsers Mikrogramme sind kilogrammweise
Leselust.
Vorgeschlagen von Paul Niemeyer
[Profil]
veröffentlicht am 30. August 2003 2003-08-30 11:45:18