Liz Murray ist für mich ein lebendes Beispiel für den "american dream and
pursuit of happiness". Die Angabe "aus dem Amerikanischen"
übersetzt ist nach wie vor eine sprachliche Unsitte, die anscheinend nicht
auszurotten ist.
Mit großer Sicherheit darf man behaupten, dass es eine deutsche "Liz
Murray" nie geben wird, weil das deutsche Bildungs- und Gesellschaftssystem
so einen Aufstieg nie zulassen würde.
Der Roman ist gegliedert in eine Widmung, zwei Zitate, einem Prolog, versehen
mit zwölf Kapiteln, einen Epilog und zum Abschluß eine Danksagung. Er ist also
stark strukturiert, weshalb man davon ausgehen kann, dass die Arbeit an diesem
Roman für Liz Murray sehr wichtig war. Soll die Widmung drei Menschen
hervorheben, "durch deren Liebe das Buch zustande gekommen ist",
zeigen die zwei angeführten Zitate die Grundmelodie der Geschichte, die für
mich einen gelungene Mischung aus Autobiographie und kritischen Anmerkungen zur
Jugendhilfe, Arbeitslosenunterstützung, Umgang mit Drogensüchtigen darstellt
und zugleich einen aufregenden Blick ins Schulsystem New York gewährt.
Die Widmung ist insofern aufschlußreich, weil sie den aufmerksamen Leser
zwischen den Zeilen mitteilt, was der Autorin wichtig war, aber ebenso sichtbar
wird, was ihr gefehlt hat. Ein Schwarzweiß-Foto im Prolog wird zum
literarischen Ausgangspunkt der Autorin, das Leben ihrer Mutter als Teenager vor
den Augen des Lesers auszubreiten.
Die zwölf Kapiteln haben mich persönlich, nachdem ich sie penibel
durchgezählt habe, unvermittelt und stellvertretend an die Eigenschaften und
das jeweilige Leben der Zwölf Aposteln erinnert. Sie stehen für einen ganz
eigenen Lebensabschnitt und beginnen in traditioneller Manier in Kapitel 1 mit
der Herkunft und Leben ihrer Familie. Die zwölf Kapitel können aber auch an
eine amerikanische Form der griechischen Tragödie erinnern.
Kapitel 1-University Avenue Kapitel 7-Die Nacht durchmachen
Kapitel 2-Mitten drin Kapitel 8-Motels
Kapitel 3-Tsunami Wetterlage Kapitel 9-Perlen
Kapitel 4-Zusammenbruch Kapitel 10-Die Wand
Kapitel 5-Aufgeschmissen Kapitel 11-Der Besuch(er)
Kapitel 6-Jungs Kapitel 12-Möglichkeit
Trotz Drogenprobleme ihrer Eltern, groß geworden während der Hippiezeit,
glaubten sie als typische Amerikaner an den "american dream of life"
und an "pursuit of happiness". Der Vater wollte eine feste Anstellung,
und ihre Mutter Stenographin beim Gericht werden. Aber Gewalt, Wut, Zorn, sowie
Misstrauen in der Familie ihrer Mutter; Trunksucht, Gewalt, Prügel in der
Mittelstandsfamilie ihrers Vater setzten sehr enge Grenzen für eine
hoffnungsvolle Zukunft ihrer Eltern.
Als kleines Mädchen lernte sie von ihrem Vater, der am Samstag in Manhattan
nach weggeworfenen Sachen im Müllcontainer suchte, zwei Sätze, die sie nie
vergaß: "Wen kümmerts, was die Leute denken" und "wenn du
weißt, dass etwas gut für dich ist, dann schnapp es dir und scheiß auf deren
Meinung. Das ist deren Problem"
Liz' Großmutter war "tief religiös", sie hatte immer eine
King-James-Ausgabe der Bibel dabei. Sie versicherte Liz, "dass alle Rätsel
dieser Welt Gottes Werk seien", Fluche nicht", Lizzy, Gott belohnt ein
faules Mundwerk nicht.....Gott sieht und hört alles, und er vergießt niemals.
Er weiß, wenn du anderen nichts Gutes tust. Sei vorsichtig, Gott ist unser
Herr, und Er ist allmächtig".
Sehr bedrückend schildert die Autorin in Kapitel 2, wie ihre Schwester und ihre
Lehrerin die Läuse in ihrem Haar bekämpfen. Erst die Mutter erlöst sie von
den Läusen. Man könnte fast meinen, die Läuse stehen für den ganzen Dreck,
körperlich und geistig, der sie umgibt. Für die Armut, Tyrannerei und die
erlösende Kraft der mütterliche Liebe. Dieses Kapitel schildert aber auch die
sexuelle Annäherung durch Ron und dem Arzt vom Amt für Familie und Jugend.
Spektakulär fand ich die Münze der NA ( Narcotic Anonym), die an diejenigen
abgegeben wurde, die für eine bestimmte Anzahl von Tagen drogenfrei blieben.
Auf dieser Münze, die Liz bei ihrer Mutter fand, war ein "
Gelassenheitsgebet" eingeprägt." Gott gib mir die Gelassenheit Dinge
hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich
ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden". Sie
begleitet Liz an allen Tagen ihres harten Lebens.
Dieser religiöse Grundton in diesem Roman ist von Anfang da und der Glaube,
denn ihr die Großmutter in ihrer Verdrehtheit Liz einimpfte, wird später zu
ihrer Kraftquelle, die sie alles überstehen lässt.
Später im Roman, verkündet Frau Dr.Eva Morales einen wohlbekannten Grundsatz
in der Sozialarbeit: " Beständigkeit bringt Entwicklung, und Entwicklung
ist gekennzeichnet durch Beständigkeit"....Man muß sein Leben in die Hand
nehmen, denn jeder ist für sich selber verantwortlich". Kann aber auch ein
Plädoyer für Verantwortungslosigkeit sein.
Der Höhepunkt des Romans stellt für mich das Kapitel 9, "Perlen",
dar, benannt nach dem Lied "Perlen in einer Muschel" von Sade. Das
ganze Kapitel 9 enthält einen imaginären Brief Lizzys an ihre Mutter. Das ist
so realistisch und hart, aber gleichzeitig von einer ungeheuren menschlichen
Wärme und Zärtlichkeit für ihre tote Mutter. Unvorstellbar!!! Ich war
wirklich gerührt!
Fazit
Ein ungemein spannendes und im wahrsten Sinn des Wortes aufregendes Buch. Keine
leichte und seichte Unterhaltungslektüre.
Es zeigt aber auch, dass elterliche Liebe und der Glaube an die Veränderbarkeit
einer bestehenden Situation einem Kind und jungen Menschen über viele
Demütigungen und Niederlagen hinweg helfen kann. Die Traumatisierung muß kein
ewiges Brandmal bleiben.
Kritik ist zu üben, an der manchmal stilistischen und orthopgrahischen
Unsicherheit der Übersetzung.
Vorgeschlagen von Oswald Poplas
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veröffentlicht am 08. Juni 2011 2011-06-08 20:28:12