Das Buch "Evil" wurde bereits 1981 verfasst. Ins Deutsche übersetzt
wurde es 2005, vermutlich anlässlich der gleichnamigen schwedischen Verfilmung.
Story: Schweden, Ende der 1950-ger Jahre. Der 14-jährige Erik wird von seinem
Vater ständig misshandelt und brutal zusammengeschlagen. Die Mutter schaut weg.
Dies prägt sein Leben und auch er verinnerlicht gewaltsames Handeln. So steigt
er zum Chef einer Jugendbande auf, die andere Schüler "abzieht". Nach
Diebstählen in Schallplattenläden fliegt die Bande auf und Erik muss die
Schule verlassen. Seine letzte Chance, einen Schulabschluss zu erhalten, ist das
Internat Stjärnberg. Dieses gilt als Eliteschule, in der allerdings ein
drakonisches Regiment herrscht - doch nicht etwa von den Lehrern, sondern von
sadistischen Primanern, die die unteren Klassen nach Strich und Faden
schikanieren. Sie nehmen sich dieses Recht heraus, denn zu Beginn ihrer
Schulkarriere wurden sie ja ebenfalls schikaniert. Diese können ihr
sadistisches Treiben jedoch nur deshalb ungestört vollziehen, weil die Lehrer
auf Anweisung des Rektors "wegschauen". Doch Erik lässt sich diesen
Terror nicht gefallen und besiegt Primaner und Mitglieder ihres
"Regierungsorganes", des sogenannten "Rates" (ein
Schülerrat mit Sonderrechten, bestehend aus Oberstufenschülern) und
"konterkariert" so die Wertvorstellungen der Schule: zu
"wehrhaftem" Menschen"material" zusammenzuwachsen, welches
für das Leben "gestählt" wird (Ernst Jünger und die Nazi-Ideologie
lässt grüßen). Die Primaner wiederum rächen sich, indem sie Eriks besten
Freund, den sanften Pierre, schikanieren und schließlich dazu bringen, die
Schule fluchtartig zu verlassen. Die Gewalt eskaliert, als Erik
"gesenkt", d.h. mit heißem Wasser übergossen wird und daran beinahe
stirbt. Diesen "Vorfall" kann die Schule nicht verharmlosen und unter
die Decke kehren. Erik jedoch rächt sich an dem Anführer des "Rates"
und bringt sein Schuljahr wie geplant zu Ende, ohne vorzeitig entlassen zu
werden und somit ohne Abschluss und Perspektive dazustehen. Aufgrund seiner
Intelligenz erhält er sogar - mit Ausnahme der Note in "Betragen" -
das beste Zeugnis, denn der einzige Schüler, der ihm in den Fächern überlegen
war, sein Zimmergenosse Pierre, war ja mittlerweile vertrieben. Erik sehnt sich
zwar nach einem Leben ohne Gewalt, doch nach dem Schulabschluss - er will an
einer Universität Jura studieren - rächt er sich noch an seinem Vater. Dieser
unterschätzt, welchen EInfluss Stjärnsberg auf seinen nun
sechzehneinhalbjährigen Sohn hatte und meint, noch den harmlosen 14-jährigen
Jugendlichen vor sich stehen zu haben. Da hat er sich sehr geirrt...
Selten hat mich ein Buch über das Thema so gefesselt wie dieser intensiv
geschriebene Roman, der - nach der obigen Filmbesprechung - auf
autobiographischen Erlebnissen beruhen soll. Er lässt einen nicht mehr los und
dies habe ich auch in etlichen Kritiken zu diesem Buch gelsen, welches 2007 auf
die Nominierungsliste des deutschen Jugendliteraturpreises kam. Mit Ausnahme von
Tessnows Buch: "Knallhart", welches ein ähnliches Thema noch
kompromissloser behandelt, kenne ich kein Buch zum Thema, welches mir so
"unter die Haut" gegangen ist.
Warum? Weil es beunruhigende Fragen stellt, die diskutiert, aber nicht
beantwortet werden. Warum wird Erik gewalttätig? Prägt die Erziehung seinen
Charakter? Ist Gewalt nötig, um friedlich leben und "in Ruhe
gelassen" zu werden und haben pazifistische Gesinnungen und Schüler, die
versuchen, im Sinne Mahatma Gandhis zu leben, keinen Erfolg oder Ruhe nur um den
Preis des "Wegschauens" und der "Feigheit"? Ist der Mensch
also "des Menschen Wolf", wie es Thomas Hobbes einmal formuliert hat
und Friedenserziehung wertlos und zum Scheitern verurteilt? Muss daher Gewalt
mit Gewalt "beantwortet" werden und gilt das "Recht des
Stärkeren?" Solche Fragen lassen einen nicht mehr los, wenn man das Buch
gelesen hat.
Das Buch besticht durch eine große Intensität, wenn auch nicht alle Charaktere
"stark" gezeichnet werden und die Handlung m.E. nicht frei von
Unstimmigkeiten ist. So fragt sich der Leser beispielsweise, warum sich die
Oberstufenschüler nach der ersten Niederlage ihres Vertreters beim Zweikampf im
sogenannten "Karo" nicht gleich zusammentun und Erik gemeinschaftlich
zusammenschlagen. Erik selber wirkt wie eine Art "Superman", dem
niemand etwas anhaben kann, der aber von den Schülern - auch der Mittelstufen -
gehaßt wird und zwar aus zweierlei Gründen: Weil er die "gewohnte
Ordnung" in Frage stellt und auch seine eigene Klasse zunehmend daran
erinnert, dass ihr Verhalten, welches sie als "lebensklug" empfinden,
auch als feige empfunden werden kann.
Das Buch beeindruckt mich deshalb, weil es keine Lösungen im
"Schwarz-Weiß"-Format erzwingt. Vielleicht passt auf dieses Buch das
Schlusswort des großartigen, leider viel zu früh verstorbenen Historikers
Thomas Nipperdey, der am Ende seiner"Deutschen Geschichte 1866-1918",
kurz vor seinem Tod, folgende Sätze schrieb: "Denn zum
modernen...Charakter gehören ebenso die größere Komplexität und
Sensibilität, die größere und einfühlsame Elastizität im Umgang mit anderen
und mit sich selbst, die größeren Schwierigkeiten und Ambivalenzen...gehören
die Lockerungen der Konventionen und dann die Rebellionen gegen sie, gehören
die Freisetzung von Gefühlen aus den strengen Einbindungen...Die Menschen
unterschieden sich nicht in gute und böse...Die Grundfarben der Geschichte sind
nicht Schwarz und Weiß, ihr Grundmuster nicht der Kontrast eines Schachbretts;
die Grundfarbe der Geschichte ist grau, in unendlichen Schattierungen."
(Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. II: Machtstaat von der
Demokratie. - München: Beck-Verl., 1998, S. 905).
Diese Worte am Schluss seines großen Geschichtswerkes fassen m.E. auch sehr gut
die "Grundphilosophie" dieses Romans zusammen; eines Werkes, welches
mich nicht losgelassen hat und welches mich wohl auch in Zukunft nicht mehr
"loslassen" wird, so sehr hat es mich aufgewühlt.
Fazit
Unbedingte Empfehlung!
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 28. Mai 2011 2011-05-28 14:36:04