Der bekannte F.A.Z.-Korrespondent und Redaktionsleiter Außenpolitik, Werner
Adam, hat eine interessante Analyse der russischen Politik und Gesellschaft bis
zum Amtsantritt von Putin vorgelegt. Von Zar Alexander II. bis zu Wladimir Putin
werden Grundzüge der russischen Politik- und Geistesgeschichte vorgelegt. Die
politischen und wirtschaftlichen Probleme dieses Landes, welches ständig auf
der Suche nach seiner Identität ist und eine ebensolche neue nach dem
Zusammenbruch des Kommunismus suchen muß (wie die Suche nach einer
"nationalen Idee" unter Jelzin und die jetzt in Anlehnung an
sowjetische Traditionen erfolgte Wiedereinführung der alten Sowjethymne zeigt),
Probleme, bedingt durch die Weite des Landes, seine politische und
wirtschaftliche Rückständigkeit im Vergleich mit dem als Vorbild und
Konkurrenten gesehenen westlichen Europas, werden überzeugend dargelegt. Die
Analyse umfasst ebenfalls die aktuellen Wirtschafts- und umweltpolitischen
Probleme des "Tschernobyls in Zeitlupe". Sachliche Fehler habe ich
kaum feststellen können. Lediglich die im Kapitel: "Der Mann aus
Stawropol" geäußerte Vermutung, Gorbatschow sei neben Andropow auch durch
den Parteichefideologen der Breschnjew-Ära, Michail Suslow, gefördert worden,
ist - obwohl in zahlreichen Gorbatschow-Biographien anzutreffen, so nicht
belegbar.
Negativ - und daher nur mit 8 Punkten zu bewerten - ist, dass Adam keinerlei
Quellen für seine - sicherlich interessanten Feststellungen benennt. Nach der
Lektüre des Kreml-Tagebuches von Jelzin dürfte auch seine unbewiesene
Vermutung obsolet werden, Jelzin sei nicht freiwillig zurückgetreten, sondern
von Putin gestürzt worden. Ein eindrucksvolles Putin-Portrait (einschließlich
einer Analyse seiner "Petersburger Connection", seines wichtigsten
Beraterkreises), dass mit seinem Versagen bei der Katastrophe der Kursk in der
Barentsee endet, bildet den Abschluss des Buches. Trotz alller Rückschläge und
der Neigung des neuen Kremlchefs zu zentralistischen und im Zweifelsfall
diktatorischen Lösungen (vgl. etwa die Knebelung der Presse und die
Einschüchterung der Oligarchen) konstatiert Adam, dass Land fasse aller
zaristischen und kommunistischen Erblasten zum Trotz demokratisch Fuß.
Leider bemüht sich Adam in keinster Weise, die russischen Besonderheiten zu
erklären oder dafür ein Minimum an Verständnis aufzubringen. Ich plädiere
hier keineswegs für kritiklose Übernahme russischer Rechtfertigungstheorien
über Rußlands imperiales Verhalten oder die kritiklose Hinnahme
verbrecherischer Handlungen, etwa des Tschetschenien-Krieges. Jedoch kann man
die russische Politik - etwa die neue Sicherheitsdoktrin unter Putin oder auch
den zweiten Tschetschenienkrieg ohne Kenntnis der russischen Bedrohungs- und
Einkreisungsängste nicht verstehen. Wenn Seiffert in seiner - ebenfalls von mir
rezensierten
Putin-Biographie - die russische
Position in diesen Fragen zu sehr idealisiert und kritiklos kommentiert, ist
dies zu kritisieren. Adam jedoch bemüht sich in keinster Weise, Verständnis
für die russische Sicht der Dinge aufzubringen; russische Politik hat für ihn
kooperativ und pro-westlich zu sein. Dass die Pläne bezüglich der
Nato-Osterweiterung Ängste weckten und heftige Reaktionen der Eliten
hervorriefen, wird von Adam zwar dargestellt, jedoch fehlt ihm jedes
Verständnis für die russische Position und damit die Fähigkeit, auch die
westliche Politik gegenüber Russland kritisch zu reflektieren.
Fazit
Insgesamt jedoch eine hervorragende Analyse der russischen Politik- und
Geistesgeschichte, die - wenn sie mit Quellen belegt wäre - noch informativer
wäre.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 20. August 2003 2003-08-20 14:37:11