Monte Christo heute
Wer dem Klappentext des Buches vertraut und einen Rachethriller erwartet, in
dem entweder 12 Geschworene nacheinander ermordet werden oder die Zeugen der
Anklage vom Verurteilten in kalter Manier ausgeschaltet werden, der wird in der
Geschichte eine Enttäuschung erleben. Einen "Justizthriller" moderner
Machart, wie es auf der Rückseite des Buches angekündigt wird, hat Jeffrey
Archer definitiv nicht verfasst.
Eher hat er, mit einigen Anspielungen im Buch auch offenkundig, die alte
Geschichte von Alexandre Dumas des "Grafen von Monte Christo" für die
Gegenwart adaptiert und einer eigenen Interpretation unterzogen. Dass die vier
Männer, die den Mord an Danny bestem Freund Bernie auf dem Gewissen haben, für
den die Hauptfigur des Romans, Danny, trotz aller Unschuldbeteuerungen und trotz
der Aussage seiner ihn treu liebenden Verlobten Beth (die Schwester des
Ermordeten Bernie) zu 22 Jahren Zuchthaus verurteilt wird, sich selbst als
"die vier Musketiere" bezeichnen, ist nur einer der ganz offenkundigen
Hinweise Archers auf sein literarisches Vorbild.
Nicht nur übrigens für den, der das Vorbild von Dumas kennt, sondern
eigentlich für jeden aufmerksamen Leser, sind die Ereignisse des Buches
vorhersehbar. Weder die (mehrere übrigens) Gerichtsverhandlungen selber noch
die vielfältigen späteren Gefährdungen der Hauptfigur Danny bergen große
Überraschungen. Die Abläufe vor Gericht werden zwar kenntnisreich und
ausführlich dargestellt, geschliffene Dialoge nehmen den Leser mitten hinein in
die Finten und Strategien der Anwälte, spannend aber wäre das falsche Adjektiv
("Meister des Spannungsromans", so kündet der Klappentext Archer an).
Eher trifft eine Kennzeichnung als "detaillierte Darstellung", hier
und gar zu ausführlich und damit einige Längen im Buch auch provozierend.
Dass das altbekannte Sujet dennoch durchaus im Rahmen der Geschichte
funktioniert und eine anregende, wenn auch wenig fordernde, Lektüre darstellt,
ist der souveränen Gestaltung durch Jeffrey Archer geschuldet. Akribisch und
mit vielen Details versehen gestaltet er seine Figuren, vermag es überzeugend,
fesselnde innere Entwicklungen einiger der eigentlich Schuldigen darzustellen
und legt einen flüssig erzählten "Schicksalsroman" vor, der alle
Elemente des "Grafen von Monte Christo" in verfremdeter Weise
enthält. Noch einmal führt Archer damit die erzählerische Kraft der alten
Geschichte vor Augen. Da stört es nur ein wenig, dass, bei aller Sorgfalt der
Figurengestaltung, die Protagonisten ohne große Zwischentöne entfaltet werden.
Die Guten sind gut, die Bösen schlecht, die Liebe hält und Aufrichtigkeit ist
Teil des guten Charakters.
Die Umstände, die die Flucht Dannys aus dem Gefängnis gelingen lassen, sind
zudem unglaublich weit hergeholt und in dieser Form schlechterdings nicht
vorstellbar, es sei denn, sämtliches Personal des Gefängnisses samt der
Hälfte der Mitgefangenen wären von heute auf morgen völlig erblindet. Gut
erzählt aber ist es, was sich Archer als Lösungen gefährlicher Situationen
vorgestellt hat, wenn auch in Teilen nicht sonderlich realistisch
Das Ende des Buches wartet dann mit einer in sich logischen und nachvollziehbar
konzipierten Lösung all der Verwicklungen, Täuschungen und fremden
Identitäten auf, in deren Verlauf die Verhältnisse endgültig zurechtgerückt
werden. Alles in Rahmen eines "letzten Plädoyers", in dem die vielen
Fäden der Geschichte zueinander finden.
Fazit
Jeffrey Archers Roman bildet eine sprachlich gut gestaltete, moderne Version des
"Grafen von Monte Christo", der als eine Form von
"Schicksalsroman" besser gekennzeichnet worden wäre denn als
"Justizthriller". Mit klaren Abgrenzungen der Figuren untereinander
versehen stellt das Buch eine anregende und angenehm Lektüre in den Raum, die
mit einigen Längen, teilweise zu detaillierten Alltagsschilderungen und einigen
stark konstruierten Wendungen dennoch gut zu unterhalten versteht. Nicht mehr,
aber auch nicht weniger.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 27. April 2011 2011-04-27 15:24:36