Ideologischer Anspruch und die politische Realität standen sich in der DDR
stets gegenüber. Zwischen ihnen klaffte eine über 40 Jahre existente Lücke,
die aufgrund divergenter Handlungsmuster und widerspruchsvoll-opportunistischer
Berichterstattung dauerhaft vorhanden war. Die DDR war ein auf Dauer angelegtes
und beständig um ihr eigenes Überleben kämpfendes Provisorium. Es wäre ohne
Repression und ideologische Einflußnahme bereits in frühen Jahren vernichtet
worden und hatte damit nach heutiger Betrachtungsweise unter der Beachtung der
völlig mangelnden gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz keine
Existenzberechtigung. Allein 1991 wurden 9000 Verfahren mit 2000 beschuldigten
DDR-Funktionären geführt. Dieses Bewußtsein vom Unrecht externalisierte sich
schließlich 1989 infolge der Zuspitzung der in Jahrzehnten angestauten
Mißstände. Die Bundesrepublik Deutschland erscheint als Referenzsystem vom
ersten Moment an.
Ein Staat oder eine Nation ist, was sie sein will und auch diesen Willen auf
legitime Weise dauerhaft aufrecht erhalten kann. Die DDR schaffte das aufgrund
immanenter Fehlerhaftigkeit nicht. Zwanzig Jahre nach der Friedlichen Revolution
1989 kommen in diesem Band prominente Zeitzeugen zu Wort. Ihre persönlichen
Erinnerungen sind bewegender Ausdruck mutigen Widerstands. Der Historiker Jan
Schönfelder hat mit Menschen gesprochen, die die Revolution aus verschiedenen
Perspektiven erlebten und mitbestimmten. Entstanden ist nun eine Sammlung ganz
unterschiedlicher Berichte. Ihnen ist gemeinsam, daß die überwältigenden
Emotionen - Angst und auch Euphorie - untrennbar mit den persönlichen
Erinnerungen der Zeitzeugen verbunden bleiben.
Die zu Wort kommenden Zeitzeugen entstammen selbst in vielen Fällen dem
Widerstand. Sie reflektieren, wie Unruhen von Beginn an im Keime erstickt werden
mußten, um am Machtanspruch der SED kein Zweifel aufkommen zu lassen. Der
Philosoph Wolfgang Harich und zehn seiner Mitstreiter z.B., die für eine
reformierte SED, einen moderaten Kurs ohne Alleinführungsanspruch der SED
standen, wurden in frühen DDR-Jahren verhaftet und zu zehn Jahren Zuchthaus
verurteilt. Eine Bedrohung durch diese intellektuelle Opposition lag nahe und
führte zu einem weiteren Rundumschlag zur herrschaftlichen Absicherung der
SED-Führung mit dem Fernziel endgültiger Stabilität. So proklamierte es der
V. Parteitag unter der Setzung der "ökonomischen Hauptaufgabe"
ebenfalls auf indirekte Weise.
Mit den Beiträgen von Gunther Emmerlich, Christian Führer, Stojan Gugutschkow,
Freya Klier, Stephan Krawczyk, Bernd-Lutz Lange, Werner Leich, Dagmar
Schipanski, Michael Schmitz, Friedrich Schorlemmer, Hans-Dieter Schütt, Peter
Tanz, Wolfgang Thierse und einem Vorwort von Michael Beleites wird deutlich, wie
diese Ereignisse doch gar nicht so weit zurückliegen.
Für Stephan Krwaczyk und Freya Klier begann das Ende der DDR entsprechend auch
schon früher. Die Biermann-Affäre wird immer wieder genannt. Der eine erinnert
an die Veränderungen in der Sowjetunion, an das Verbot russischer Filme und
Zeitschriften in der DDR. Das Jahr 1989 mit der gefälschten Wahl im Frühjahr,
der Öffnung der ungarischen Grenze und den Ereignissen in der Prager Botschaft
- es hat eine Vorgeschichte. Und dieses Büchlein, das aus den immer gleichen
Fragen an die 13 Interviewten entstand, lässt zumindest ahnen, wie
oberflächlich gegenwärtige Geschichtserklärungen sind.
Die DDR als organistorisch-defizitäres Produkt indoktrinierter Generalisten
unter einer starren Greisenherrschaft bestätigte sich selbst immer wieder als
zwar stets instabiles Provisorium, zeigte aber auch, daß an eine
Selbstabdankung der Gerontokraten so schnell nicht zu denken war. Der ein oder
andere in diesem Buch - wie Friedrich Schorlemmer und Christian Führer -
spricht nun auch von einem Wunder. Das ist christlich gedacht und stimmt für
sich. Und so mancher, der dabei war, wird den Moment natürlich immer als
unvergleichlich empfinden: Auf einmal war alles möglich, die Welt löste sich
aus der verordneten Erstarrung. Daß viele dieser widerspruchsvollen Geister
nach der glorreichen Revolution wieder im Abseits landeten - es gehört zur
Tragik dieses geschichtlichen Momentes. Es bleibt festzuhalten, daß die Politik
der DDR unter systematischer Bevormundung des Alltagslebens der Menschen und
einer damit einhergehenden Internalisierung von Repression und Disziplinierung
gesellschaftliche Blockaden verursachte, die irgendwann überkochen mußten.
Fazit
Die Zeitzeugen dieses Buches berichten ihre persönlichen Erlebnisse vor diesem
Hintergrund und noch etwas: Es wird indirekt und zwischen den Zeilen noch mehr
deutlich: Man hüte sich davor, sich heute vor Repression, Disziplinierung und
vor gesellschaftlich verordneten Denkblockaden sicher zu fühlen. So richtig hat
sich nämlich heute kaum etwas verändert was das freie Denken und
staatslegitimatorisch verordnete Denkmuster angeht! DDR-light läßt grüßen!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 01. Juni 2009 2009-06-01 11:21:01