Das Böse lebt
Der fahrende Schausteller Rico, der im Dorf Station macht und hinter dem sehr
viel mehr steckt, als man vermutet, (zu sehen wenn er seinen Schuh auszieht),
bringt es auf den Punkt. Sein Schaustellerzelt trägt die Überschrift
"Ricos Reise durch die Hölle". Ein Motto, das einem jungen Mädchen
nicht gut bekommen wird.
Ansonsten aber braucht das Dorf den düsteren Mann nicht, um eine Schnittstelle
zur Welt des abgrundtief Bösen darzustellen. Das Böse, dass hier nicht mit
Pauken und Trompeten daherkommt oder sich im Dunklen hinter knarrenden
Schranktüren versteckt, sondern dass so natürlich, so nebenbei in den
Bewohnern des Dorfes vorhanden ist. Keine innere Grenze scheint selbst den
Nachwuchs des Dorfes darin aufzuhalten, jedes auch mythisch-magische Mittel in
Anspruch zu nehmen, um die eigenen Ziele zu verfolgen.
Sei es spontan, wie im Spiel der Jungen auf dem zugefrorenen Tümpel, aus dem
bald unglaublich lapidar geschildert Ernst wird, sei es bei einem ebenso
spontanen Ausbruch im Rahmen einer solch harmlosen Begebenheit wie einem kleinen
Wettkochen, sei es in der heiligen Nacht, geplant und vorbereitet gegenüber dem
eigenen Vater.
Das Buch beginnt bereits mit einem Blick auf das innerlich grenzenlose
Verhalten. Glaubt man für einen Augenblick dass sich in der Gegenwart einige
alte Kinderfreunde als gereifte Menschen zur Trauerfeier für eine Bekannte aus
dem Dorf versammeln, wird man umgehend eines besseren belehrt, wenn der einzige,
weibliche Gast bei der Beerdigung den Rock hebt und auf das Grab uriniert.
Wohlgemerkt aber stet dem Autor auch in dieser Szene nicht der Sinn nach
ordinären Handlungen, sondern als kleine Momentaufnahme gönnt er dem Leser
hier bereits einen ahnenden Blick auf das Innenleben seiner Protagonisten. Ein
Blick, der umgehend für Aufmerksamkeit sorgt und neugierig auf den Verlauf der
Geschichte macht.
In der Form lässt Stefan Kiesbye nun Kapitel für Kapitel jeweils einen der
alten Kinderfreunde in jeweiligen Rückblicken auf ihre damalige Zeit im Dorf zu
Wort kommen. Jede der Erinnerungen beginnt eigentlich harmlos, alltäglich, doch
schon nach den ersten beiden Erinnerungen weiß man, dass in diesen den ganz
harmlosen Anfängen und Begebenheiten sich Wendungen ergeben werden, die zu
unerhörten Folgen führen werden. Folgen für den eigenen Vater, die eigene
Mutter, die Geschwister, gar für unschuldige Neugeborene durch die Hand der
eigenen Mutter.
Kein Tabu kennt Stefan Kiesbye in seiner abgrundtief bösen Geschichte, in
seinem Blick auf das Böse, dass hinter allem lauert, ohne dabei jemals einfach
ordinär oder blutrünstig zu wirken. Gerade die Beiläufigkeit, die Stringenz
der Handelnden, in denen nur selten und nur kurz geringe Zweifel zu spüren sind
und die sich nicht abhalten lassen, als wäre es das Natürlichste von der Welt,
zu töten, macht den Reiz in Stil und Geschichte aus.
Fazit
Nicht unbedingt im Sprachstil, wohl aber in dieser konsequenten Komposition des
inneren Bösen erinnert Kiesbye durchaus an Stephen King, dessen Credo es war
und ist, jede leicht verschämte Decke vom Bösen hinweg zu ziehen und den Leser
unverstellt einen Blick darauf werfen zu lassen. Nicht einfacher Aberglaube ist
es dabei, der die Handlungen im abgeschiedenen Dorf im Norden Deutschlands
motiviert, Kiesbye gönnt dem Leser tatsächlich einen Blick auf das abgrundtief
Böse, was im Menschen schlummert, und ausbricht, wenn keine inneren Grenzen
gesetzt sind.
Er tut dies in der Form eines klassischen Schauerromans und erschreckt in tiefer
Weise durch die völlige Alltäglichkeit und Beiläufigkeit der Handlungen.
Vergebens wartet man auf das erlösende Gute in dieser auf den Dorfwelt am Rande
des Moores. Ein Ort, an dem die "Reise zur Hölle" vermutlich endet,
weil diese hier zu finden ist. Im Innern des Menschen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 21. März 2011 2011-03-21 13:27:22