Die zwei Gesichter der Türkei
Regelmäßig wird innerhalb der EU beraten, wieweit die Türkei bereit ist, um
der EU beizutreten. Eine aktuelle und ständig neu angefachte
Integrationsdebatte geht seit Monaten durch die Medien und türkischstämmige
Menschen spielen eine nicht unerhebliche Rolle darin. Der türkische
Ministerpräsident tourt durch Deutschland und macht Stimmung für ein
Festhalten an den alten Traditionen und, vor allem der Sprache, auch in der
Fremde. Der europäische Teil Istanbuls mausert sich Jahr für Jahr mehr zur
modernen Metropole mit hoher Anziehungskraft für gut ausgebildete Menschen aus
aller Welt.
Die Türkei ist ein Land der zwei Gesichter und in sich mit einer fühlbaren
Spannung ausgestattet. Genau diese Spannung ist es, die die Memoiren von Zülfü
Livaneli mit durchziehen und das Buch dieser Erinnerungen an ein bewegtes,
künstlerisches Leben so wertvoll machen. Denn nicht nur taucht man ein in das
Leben und Schaffen eines Autors, Filmemachers und Liederdichters, nicht nur
lernt man einen der bekanntesten Künstler der Türkei aus eigener Sicht kennen
(und dies literarisch wunderbar gestaltet, der Titel "Roman" passt auf
das Buch, obwohl es eigentlich eine Autobiographie darstellt), zudem erhält der
Leser einen intensiven, hautnahen Einblick in eben jene Spannung zwischen
Tradition und Moderne, Dogmatismus und Weltoffenheit, Neugier und Abwendung von
vielen allzu liberalen Ideen.
Lebenserinnerungen eines Mannes, der sein Leben lang gradlinig für seine
Überzeugungen eingestanden ist. Was ihm insgesamt 11 Jahre im Exil und durchaus
kritische Anwürfe auch späterhin bescherte, als er sich offen für die
kurdische Minderheit im asiatischen Teil der Türkei einsetzte. Ein "Mann
zwischen den Welten", so kann man es sagen, wenn Livaneli schildert, wie er
jeden Morgen auf den Bosporus schaut und beide Welten damit im Block hat. Auch
zwischen den Welten seines immer noch hochaktiven künstlerischen Schaffens und
seiner weltoffenen, politischen Haltung. Einer, der mit spürbarer Emotion davon
berichtet, wie viele seiner Freunde und Bekannten im Lauf der Jahre in der
Türkei ermordet wurden. Durchaus auch für den Leser sind manche der
Schilderungen über die Unsicherheit für das eigene Leben auch in der modernen
Türkei noch erschreckend, wenn auch eine langsame Entwicklung in den Augen
Livanelis spürbar stattgefunden hat, die dieser auch politischen Gewalt langsam
Einhalt gebieten. Gewalt und Gefahren auch für as eigene Leben, in manchen
Teilen liest sich das Buch daher wie ein moderner Thriller, wenn Livaneli
mittels gefälschter Papiere das Weite sucht und andererseits, einige Jahre
später, im Parlament sitzt.
Nicht zu vergessen aber, neben diesen politischen Einlassungen und dieser
Darstellung eines "Innenbildes" der Türkei der letzten 40 Jahre, ist
der intensive Blick auf die Kunst, auf das eigene Schaffen. Livaneli gelingt es
so, den Leser nicht nur zu einer inneren Reise durch die Türkei einzuladen,
sondern auch zu einer Reise durch das Schaffen eines Kunstschaffenden, der
seiner Kunst vielfältig Ausdruck verleiht.Den Ort, an den Livaneli an allen
geographischen Orten wieder zurückkehrt und zu dem er bekennt: ".... dass
ein Künstler sich am Besten durch seine Kunst ausdrückt und nicht durch......
politische Aktivität, denn es besteht sonst ein hohes Risiko, missverstanden zu
werden."
Fazit
Ein fulminanter, auch sprachlich mitreißender Blick auf ein fast übervolles
Leben und Schaffen mit einem intensiven Blick auf ein spannungsgeladenes Land
mit großer, innerer Reibung.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 21. März 2011 2011-03-21 10:39:09