Der Kunde, der an Mathildes Ladentür in Montlaudun klopft, noch ehe sie ihre
Buchbinderwerkstatt öffnen kann, riecht als hätte er lange im Wald gelebt. Es
ist ein auffallend großer gehetzt wirkender Mann, der ein in Ziegenleder
gebundenes Buch restaurieren lassen möchte. Das Buch mit Architekturzeichnungen
ist in keinem Verlag erschienen, es zeigt den Bauverlauf für einen römischen
Tempel in einem Wald. Dem Kunden eilt es, er zahlt im Voraus und legt exakt
fest, was an dem intarsienverzierten Band getan werden muss. Für das in den
Augen einer französischen Buchbinderin ungewöhnlich gearbeitete Buch stellt
Mathilde alle anderen Aufträge zurück. Der Kunde, der auf Mathilde einen
zurückhaltenden, erschöpften Eindruck machte, verunglückt noch am gleichen
Tag. Mathildes Besucher hat keine Papiere bei sich, niemand im Ort scheint ihn
zu kennen.
Das Buch des Unbekannten riecht intensiv nach Rauch. Mathildes Gedanken
schweifen zu den Tempel-Abbildungen und zu ihrem Großvater. Beim Großvater
hatte Mathilde ihr Handwerk gelernt, der Großvater war im Gegensatz zu seiner
Enkelin immer dagegen, in den Büchern zu lesen, die er zu restaurieren hatte.
Beim Lösen des Buchblocks vom Einband fällt Mathilde aus dem Deckel ein
Notizzettel mit Namen entgegen und sie findet einen winzigen, verbrannten
Holzsplitter. Da niemand den Unbekannten bisher vermisst gemeldet hat, können
nur Indizien Hinweise auf seine Herkunft geben. Den Splitter lässt Mathilde vom
Uhrmacher des Ortes genauer untersuchen, mehr darüber möchte sie von einer
Archäologin in der nächsten Stadt erfahren. Der Unbekannte und sein Buch sind
im Handwerkerviertel Montlauduns inzwischen Tagesgespräch. André, der Bäcker,
sieht sofort, dass der Zeichner die Wälder der Umgebung wiedergegeben hat. Von
André, Mathildes väterlich wirkendem Nachbarn, kommt der entscheidende Tipp
auf eine einsam liegende Mühle der Region. Mahtildes Recherchen führen sie bis
in die Zeit der Résistance zurück, ehe verschiedene Hinweise ihrer
Handwerker-Kollegen ihr schließlich das Geheimnis des Fremden und seines
ungewöhnlichen Buches enthüllen.
Mathilde ist eine zupackende junge Frau, die ihren Beruf in Paris aufgibt, um in
der Dordogne ihrer Leidenschaft für das Buchbinden nachzugehen. Ihre
persönlichen Geheimnisse gibt die Icherzählerin ihren Lesern nicht
vollständig preis. Cyrano de Bergerac, der hier gelebt hat, brachte Mathilde
nach Montlaudun, er ist ihre "Männertherapie", ihr Talisman, dessen
Texte sie mit sich herumträgt. Das traditionelle Handwerk bietet Mathilde eine
Fluchtmöglichkeit aus ihrem bisherigen Leben. Dass die Werkstücke
Jahrhunderte überdauern werden, nachdem ein Buchbinder sie restauriert hat, ist
eines der Motive für Mathildes Entscheidung für ihr Handwerk. Der Geruch der
Bücher und die Arbeit mit den Händen vermitteln Mathilde Ruhe und ein Gefühl
der Nähe zu ihrem Großvater. In der Handwerkergasse Montlauduns hat sich wie
auf einer Insel mitten in der Stadt eine eingeschworene Gemeinschaft gebildet,
in der jeder zum Überleben auf den Umsatz durch seine Kollegen angewiesen ist.
Mathilde ist in diesem Kreis die Jüngste. Bäcker, Uhrmacher, die
Eisenwarenhändlerin, die schon längst im Rentenalter ist, auch der
Kolonialwarenladen können nur überleben, wenn die Nachbarn nicht im Supermarkt
kaufen.
Als in den Nachbarorten Gerede über Mathildes geheimnisvollen Kunden entsteht,
bringen die Gerüchte Mathilde in ernste geschäftliche Schwierigkeiten.
Krimireife Ermittlungen, unterstützt von Mathildes Handwerker-Kollegen, stellen
die Verknüpfung zwischen persönlichen Schicksalen mit der regionalen
Geschichte her und bringen am Ende die Menschen wieder zusammen. Die Lösung der
Geschichte wirkt angesichts der komplexen Handlung recht simpel. Anne Delaflotte
hat mit Mathilde eine moderne Kunsthandwerkerin geschaffen, die als Person bis
zum Schluss des Buches rätselhaft bleibt. Die geradezu sinnliche Darstellung
der Buchbindearbeiten und Mathildes besondere Beziehung zu Büchern kann so wohl
nur eine Autorin beschreiben, die das Handwerk selbst ausübt.
Fazit
Mathilde und der Duft der Bücher ist als ruhig erzählte und doch spannende
Geschichte durch ihre zurückhaltend gezeichnete Hauptfigur und die
sorgfältige, detailreiche Darstellung des Buchbindens für meinen Geschmack
eines der beeindruckendsten Bücher des Jahres.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 12. März 2011 2011-03-12 17:28:09