Die zwei Seiten der Medaille
Ein Autor, der sich wünscht, dass man nicht weitererzählt, was im Buch
passiert. Damit ein Autor, der von der Kraft seines Buches, seiner Geschichte so
überzeugt ist, dass er fest überzeugt davon ausgeht, dass es einem von den
Lippen drängt, was man gelesen hat.
Und ein Autor, der genau damit recht hat. Ein umwerfender, wunderschöner, vor
allem aber die einzelnen Nuancen zutiefst treffender und weitergebender
Sprachstil ist bei den vielen sprachlich eher simpel gestrickten Büchern und
"Bestsellern" unserer Tage alleine schon das Lesen wert.
Wenn dann noch Figuren handeln und sprechen, die aus ihrer ganz entgegen
gesetzten Erlebniswelt in die Tiefe dergleichen Erfahrungen und Geschehnisse
vordringen und durch dieses Zusammenspiel dem freien, zivilisierten, kulturell
eingebildet bis blasierten Gesellschaftskreis der westlich-marktwirtschaftlichen
Welt in solch unverfälschter Form von der 16jährigen Little Bee ein Spiegel
sondergleichen vorgehalten wird, dann wartet ein Leseerlebnis der ganz
besonderen und lange nach haltenden Art, aber keineswegs einfachen Art.
Wie kann es sein, dass ein junges, nigerianisches Mädchen, dass die grausame
und menschenverachtende Seite der Welt am eigenen Leib bereits erfahren musste,
dessen ganzes Grundgefühl daraus besteht, unerwünscht und überall fremd zu
sein, doch immer wieder die Kraft und den Mut aufbringt, neue Wege anzunehmen
und auf der anderen Seite ein gut situierter Engländer, Vater und Ehemann,
sich, neben einer inne liegenden Neigung zur Depression, nicht zuletzt aufgrund
eines gemeinsamen, traumatischen Erlebnisses das Leben nimmt, als er durch einen
Anruf von Little Bee der Traumata nicht mehr Herr wird?
Dies ist nur eine der Grundfragen, denen Chris Cleave in einer tief treffenden,
bildhaften Sprache von zwei Seiten aus nachgeht. Einerseits aus der Sicht Little
Bees, Nigerianerin, 16 Jahre alt, die letzten zwei Jahre als illegaler
Flüchtling in englischer Abschiebehaft und nun auf "freiem Fuß", was
immer Freiheit nun genau heißen mag (eine weitere Frage, die in den Tiefen des
Buches ihre Wendungen nehmen wird), sich befindet.
Auf der andern Seite Sarah, deren Mann ebenjener Selbstmörder war, deren Sohn
sich mit Verkleidungen gegen all das Böse der Welt wappnet, deren Begriff von
Leben, Freiheit und Zukunft sich aber in ganz anderen Bahnen bewegt, als es bei
Little Bee der Fall ist. Sarah, die Little Bee während eines Urlaubes
kennenlernte in deren bedrohtem Leben, Little Bee, die nun im Sarahs
alltäglichem Leben in London anlangt.
So lösen die gemeinsamen, schrecklichen Erinnerungen, aber auch die nun
folgenden gemeinsamen Erlebnisse ganz verschiedene Assoziationen und Reaktionen
aus. Eine Verschiedenheit, die letztlich der ganzen westlichen Welt den Spiegel
vorhalten wird, die die tiefe Unterschiedlichkeit der Prägungen und
Lebenshaltungen ungemein ausdrucksvoll zur Sprache bringt. Und ein Blick auf die
(mögliche) Schönheit des Lebens und der Welt, gespiegelt in der (realen und
täglich sich vollziehenden) brutalen Grausamkeit, bei deren Schilderung Cleave
aber wirklich kein Blatt vor den Mund nimmt.
Ist es wirklich so, dass der gut situierte "Westler" nur mehr sich aus
den Illusionen eines relativen Wohlstandes und dem Blick auf eine mögliche,
bessere Welt nährt, während die globale Realität in ganz anderer Richtung
immer weiter fortschreitet und dem größten Teil der Menschheit jede Luft zum
Atmen und Leben genauso nimmt, wie schon das ganz einfache Nahrungsmittel sich
mehr und mehr an vielen Orten fast unerschwinglich darstellt? Dazu den tägliche
Unwert des eigenen Lebens spürbar im Raume zu erleben? Fragen, die Cleave nicht
moralinsauer trocken in den Raum stellt, sondern im Zuge seiner Geschichte fast
unmerklich sich aufdrängen lässt
Fazit
Ein wunderschön geschriebenes, in die menschliche Tiefe reichendes, letztlich
sehr verstörendes Buch, das aufgrund der erlebten und geschilderten Grausamkeit
der Welt schmerzvoll die mögliche Schönheit in den Raum zu stellen vermag.
Eine mögliche Schönheit, die sich immer weiter entfernt durch Egozentrik und
Trägheit mancher auf Kosten der Vielen. Ein Buch mit einem erschütternden
Ende, soviel sei noch gesagt.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 18. Februar 2011 2011-02-18 20:09:22