Sensibel für das Vergehende
Den 23. Psalm hat Frank Allcroft in ganz eigener Weise für sich erschlossen.
Seiner Meinung nach gelten die Worte dem Hirten als Trost, dass die Herde gut
versorgt ist, nicht der Herde als Sicherheit. Und irgendwie passt das, denn
Frank ist so etwas wie ein Hirte.
Er selbst würde das natürlich nicht für sich in Anspruch nehmen, aber in
vielen Fällen kann er einfach gar nichts dagegen unternehmen. Wenn sein Inneres
angesprochen wird, dann lässt es ihn nicht mehr los. So, wie er bei Dorothy
Ailings Tod es nicht vermochte, die Gedanken an diese im Nichts vergehende
Existenz aus dem Kopf zu verbannen. Als Fernsehmoderator eines lokalen Senders
hatte er kurz über diesen anonymen Tod berichtet, war auf der Beerdigung und
ist seitdem immer wieder auf der Suche nach solchen Menschen, die ohne Freundes-
oder Verwandtenkreis sterben. So manche Beerdigungen hat er bereits besucht,
manche Blumen abgelegt und damit einen Rest an Erinnerung in den Raum
gesetzt.
Aber nicht nur auf dieser etwas skurrilen Ebene hat er ein weiches Herz. Als
Moderator ist er bei den Zuschauern fast schon Kult, weil er, der Witze einfach
nicht erzählen kann, in fast jeder Sendung nicht nur einen Witz schlecht
erzählt, sondern der Witz selber unglaublich schrecklich ist. Was keiner der
Zuschauer ahnt ist, dass Frank dem Erzeuger der Witze gegenüber einfach nicht
nein sagen konnte, als dieser in Tränen aufgelöst vor ihm stand und sich als
Gaglieferant andiente. So enttäuscht Frank den Mann lieber nicht und erzählt
stoisch unlustige Witze. Ein Hirte eben, einer der bewahrt, der nicht
enttäuscht, der im Bewusstsein halten will, was droht, einfach im Mahlstrom des
Vergessens abhanden zu kommen.
Frank Allcroft ist ein sensibler Melancholiker, der nicht zur Depression neigt,
durchaus aber ist er ein feinfühliger Mensch. Sei es seiner Mutter gegenüber,
die nach dem frühen Tod des Vaters bereits in recht jungen Jahren die
Lebensfreude schlichtweg aufgegeben hat und nun eine der jüngsten Bewohnerinnen
einer Seniorenresidenz ist, die jeden der Besuche von Frank, seiner Frau und
seiner Tochter zu einer Tortur gestaltet. Sei es seine Melancholie im Anblick
von Abrissarbeiten an Häusern, die sein Vater, der Architekt, einst baute. Sei
es eben, wenn ein Mensch stirbt und niemand ihn zu kennen schien. Sich selbst
gegenüber aber ist und bleibt Frank unprätentiös, den schönen Dingen des
Lebens gegenüber fast unempfindlich, soweit es sich nicht um seine geliebte
Frau oder seine Tochter handelt.
Einer dieser anonymen Toten nun trägt ein ganz besonderes Geheimnis. Jener
Michael schien ein enger Freund seines Vorgängers als Moderator beim Sender
gewesen zu sein, dass allseits beliebten und allgegenwärtigen Phil. Aber wie
hingen jene beiden grundverschieden lebenden Männer zusammen? Was war das für
eine Freundschaft und was machte diese Freundschaft aus? Fragen, die im Dunkeln
liegen, Fragen, denen Frank Allcroft mit immer mehr Zeit und Energie beginnt,
nach zugehen. Mit ganz erstaunlichen Ergebnissen.
Fazit
Catherine O'Flynn schreibt leise und einfach nicht aufdringlich. Aber mit einer
ungeheuren Präsenz, was ihre Figuren angeht. Genauso sensibel, wie sie ihre
Figuren anlegt, bringt sie diese in feinen Verästelungen dem Leser nahe und
führt im Lauf der Geschichte mit dieser Haltung und den Handlungssträngen den
Wert des Vergangenen vor Augen und die Melancholie das Dahinwelkens. Das
Gewesene zu bewahren, zumindest aber seinen Verlust angemessen zu bedauern,
dafür steht nicht nur Frank Allcorft in diesem wunderbar und empathisch
erzählten Roman, dafür stehen auch die anderen Figuren, die Gebäude, selbst
die schalen Witze noch, die Frank erzählt.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 07. Februar 2011 2011-02-07 20:20:10