Genosse Parteisekretär Zhao ist auch nach seiner Pensionierung ein
einflussreicher Mann. Zhaos überraschendes Angebot Inspektor Chen seinen Platz
im feudalen Erholungssheim für Politkader abzutreten, kann Chen kaum ablehnen.
Zhao schuldet Chen noch einen Gefallen und hält die gegenseitige Verpflichtung
mit seiner großzügigen Geste lebendig. Chen bezieht innerhalb des Kurheims in
Wuxi direkt am Taihu- See eine eigene Villa mit mehreren Räumen. Der Ermittler
der Abteilung für Spezialfälle bei der Polizei Shanghai ist wirklich
urlaubsreif; dennoch fällt es ihm schwer in Wuxi abzuschalten. In einem kleinen
Restaurant lernt der Inspektor Shanshan kennen, eine Umweltingenieurin des nahen
Chemiewerks. Shanshan öffnet Chen die Augen dafür, dass der in traditionellen
Versen gepriesene See durch Abwässer der Chemie-Industrie verschmutzt ist und
seine Fische längst ungenießbar sind. Als Geschäftsführer Liu, Shanshans
Chef, ermordet wird, fällt es Chen zunehmend schwer sich nicht wie ein
Ermittler zu verhalten; Shanshan gegenüber hatte er sich als Lehrer
vorgestellt. Polizeimeister Huang, der die Ermittlungen leitet, kennt Chen und
packt die Gelegenheit beim Schopf, sich von ihm inoffiziell ein paar Tipps geben
zu lassen. Der ermordete Liu hatte den Börsengang des Chemiewerks vorbereitet,
der ihn selbst zum Mehrheitsaktionär befördert hätte. Wer hätte vom
Börsengang profitiert, wer wäre der Verlierer gewesen, fragen sich Chen und
Huang bei ihren konspirativen Treffen. Die Abteilung für Innere Sicherheit
präsentiert wie gewohnt schnell einen Verdächtigen, doch Huang will nicht nur
ein Bauernopfer, sondern den Fall aufklären. "Menschen sind komplexe
Wesen. Versetzt man sich in die Rolle der Handelnden, wird plötzlich alles
ganz logisch" - Chens beliebte Maxime führt ihn nach einigen Umwegen zur
Lösung des Falles. Man wird noch von Chen hören, versichern seine neuen
Kontakte in Wuxi, als sie den Besucher aus Shanghai wieder verabschiedet haben.
Der siebte Band mit Chens Ermittlungen ist bereits in Arbeit.
Der Mann aus Shanghai greift bei seinen Ermittlungen auf moderne
Informationstechnologien zurück und ist sich der Veränderungen der
chinesischen Gesellschaft sehr bewusst (Friseursalons, in denen andere
Dienstleistungen als Haarschnitte erbracht werden, oder Lius "kleine
Sekretärin", die Geliebte auf Firmenkosten als Statussymbol). Bei seiner
Unterstützung Huangs lässt Chen seinen vertrauten Kollegen Yu in Shanghai mit
klassischer Schuhsohlentätigkeit ermitteln, was den Krimi sehr glaubwürdig
macht. Ausgezeichnete Beobachtungsgabe und ihre Teamfähigkeit führt die
Ermittler zum Erfolg. Als roter Faden begleitet die Leser der Krimi-Reihe seit
Tod einer roten Heldin die
Frage, wann Inspektor Chen wohl die große Liebe seines Lebens treffen wird. Wie
gewohnt spielen kulinarische Genüsse und Chens Liebe für die chinesische Lyrik
bei Qiu Xialong eine tragende Rolle. Angesichts der Umweltprobleme wirken Chens
naturverherrlichende Gedichte, in die er seine Zuneigung zu Shanshan kleidet,
inzwischen wie Relikte aus einer fernen Welt. Die überlieferte Weisheit, dass
man als Chinese den Unterschied "zwischen innen und außen" kennen
sollte, gilt jedoch immer noch, wie der Fall Liu uns zeigt.
Fazit
Chens sechsten Fall, bei dem der inzwischen berühmte Inspektor aus Shanghai mit
Wachtmeister Huang aus Wuxi zusammenarbeitet, empfehle ich Anhängern der
Chen-Reihe gern. Das Buch ist vom Umfang um ein Drittel schlanker als der erste
Band, der mit Atmosphäre und Detailfülle begeisterte. Der Kürze könnte eine
recht simple Begründung für die kriminelle Verschmutzung des Taihu-Sees
geschuldet sein, die die Gleichgültigkeit gegenüber Leben und Gesundheit
fremder Menschen im modernen China nicht weiter hinterfragt.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 07. Februar 2011 2011-02-07 11:46:03