Brooklyn im Sommer 1947. Evie spürt schon das Ende des Sommers, die Zeit, in
der sie und ihre Freundin Margie nach endlosen Ferienwochen zum ersten mal
wieder an die Schule denken. Evie sehnt ihren 16. Geburtstag herbei; denn sie
will endlich rauchen und einen Lippenstift benutzen dürfen. In Rückblenden
erzählt die Fünfzehnjährige aus den Kriegsjahren, die die Zeit vor ihrem 13.
Lebensjahr bestimmten. Joe, Evies Stiefvater, ist als einer der letzten
amerikanischen Soldaten nach vier Jahren Militärdienst aus dem Zweiten
Weltkrieg zurückgekehrt. Vier Jahre sind eine ewig lange Zeitspanne im Leben
eines Mädchens, das erst 9 Jahre alt war als Joe Soldat wurde. Jahrelang
mussten die Frauen während des Krieges allein zurechtkommen. Nun sind sie
plötzlich wieder auf der Suche nach Rollenmodellen für das Zusammenleben mit
einem Mann. Joe kündigt Frau und Tochter überraschend einen Ausflug nach
Florida an. Wenn jemand, der mehrere Geschäfte gegründet und jedes Mal schnell
wieder die Lust daran verloren hat, plötzlich seine Koffer packt, klingt das
nach Flucht. Misstrauen schleicht sich ein, ob dieser Joe Spooner nicht nur ein
Luftikus sein könnte.
Obwohl Joe seine Rolle als Vater sehr ernst nimmt, hat Evie sich stets nur wie
ein Werbegeschenk gefühlt. Joe beachtet sie doch bloß, weil er ihre Mutter
liebt. Mrs. Grayson, die die Spooners im Hotel in Florida kennlernen, sieht
anders als die Eltern in Evie die heranwachsende Frau. Als Peter, ein
Kriegskamerad Joes, überraschend auftaucht und Evie heftig umwirbt, reagieren
ihre Eltern darauf entsetzt. Joe hat zudem mit Peter noch eine Geschichte aus
ihrer Militärzeit in Europa zu klären. Warum in diesem Buch gelogen wird, sei
besser nicht verraten. Am Ende wird Evie sich als die Härteste von allen
erweisen und sich allein von Mrs. Grayson verstanden fühlen.
Die Autorin lässt die Atmosphäre der Nachkriegsjahre mit sparsamen Hinweisen
lebendig werden. In wenigen Sätzen vermittelt sie ihren Lesern, was Krieg
bedeutet und wie ein vaterlos aufwachsendes Kind empfindet. "Ich hatte mir
immer einen Vater gewünscht. Irgendeinen. Einen strengen, einen lustigen,
einen, der mir rosa Kleider kaufen würde, einen, der lieber gehabt hätte, wenn
ich ein Junge geworden wäre. Einen, der herumreiste, einen der sich nie aus
seinem Sessel erhob. Einen Arzt, einen Rechtsanwallt, einen Indianerhäuptling,
ich wünschte mir Reste von Rasierschaum im Waschbecken und ein Pfeifen auf der
Treppe.... Ich wollte meine Mutter hinter einer verschlossenen Tür lachen
hören."
Blundell zeigt die USA von einer vielen unbekannten Seite; sie zeichnet ihre
Haupt- und Nebenfiguren differenziert und glaubwürdig. Evies Gefühle, die
sich von einem Tag auf den anderen als Frau fühlt, wie auch Joes verletzte
Eitelkeit, als ausgerechnet Peter "seiner" Tochter nachstellt, sind
hinreißend getroffen.
Fazit
Aus der Ausgangssituation - Evie verliebt sich in einen erheblich älteren Mann,
mit dem ihr Stiefvater Geschäfte macht - entwickelt Judy Blundell eine
mitreißende Krimi-Handlung, die mich verblüfft und berührt hat. "Die
Lügen, die wir erzählten" wird jugendliche wie erwachsene Leser
begeistern.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 23. Januar 2011 2011-01-23 09:50:42