Glatzkopf-Li und Song Gang sind Halbbrüder. Der Vater des kleinen Glatzkopf
erstickte in der Jauchegrube, weil er unbedingt mit dem Kopf voran im Plumpsklo
von unten den nackten Hintern von Lin Hong sehen wollte. Lis Mutter findet zwar
ein neues Glück an der Seite von Song Fangping, Song Gangs Vater, doch den
Makel des Tods im Plumpsklo wird die Familie nicht wieder loswerden. Der kleine
Li ist ein frühreifes Kind, das seine ersten sexuellen Erfahrungen an
Laternenpfählen und auf Bänken macht und wie sein Vater schon früh zum
Spanner wird. Während Maos Kulturrevolution wird Herr Song als Sohn eines
"Grundbesitzers" verhaftet und vor den Augen seiner Kinder zu Tode
gefoltert. Nach dem frühen Tod der Mutter müssen die beiden Halbwüchsigen nun
für sich selbst sorgen. Wie ein altes Ehepaar leben sie zusammen. Beide
arbeiten, Song Gang führt den Haushalt und verwaltet das gemeinsame Geld. Er
kann alles, nur keine Kinder kriegen, meint der kleine Glatzkopf über seinen
älteren Bruder. Li findet einen Job als einziger leistungsfähiger Arbeiter in
einer Behindertenwerkstatt und bringt den Betrieb bald zu wirtschaftlicher
Blüte. Mit einer Mischung aus Protektion durch seinen Gönner Tao, frechem
Mundwerk und abenteuerlicher Selbstüberschätzung bringt Li es zum
"Direktor". Die einzige, die hinter Lis Fassade blickt, ist Lin Hong,
um die Glatzkopf Li heftig wirbt. Obwohl sie sich Lis Werbung nur schwer
entziehen kann, entscheidet Li sich für den gutmütigen Song Gang.
Zehn Jahre später kündigt Li in der Behindertenwerkstatt, um in Shanghai das
ganz große Geld zu machen. Zur Finanzierung seiner hochfliegenden Pläne
verkauft er Aktien an den Eisverkäufer "Stieleis-Wang", den
Zahnreißer Yu und die Imbissbesitzerin. Im Gegenzug dürfen Lis Aktionäre die
Markennamen zukünftiger Kleidungsstücke der Kollektion Li bestimmen. In
Gedanken sehen alle Geldgeber sich bereits steinreich, doch Glatzkopf-Li kehrt
ohne einen Fen in der Tasche aus Shanghai zurück. In kürzester Zeit baut Li
ein Imperium als Altwarenhändler auf, während er im Zelt auf dem öffentlichen
Platz vor dem Sitz der Kreisregierung residiert. Egal, was Schlitzohr Li
anpackt, wen auch immer er über den Tisch zieht, alle halten große Stücke auf
ihn. Li importiert bald Altkleider aus Japan und prägt das Modeempfinden seiner
Heimatstadt damit nachhaltig. Der frühe Markenwahn, das Herumstolzieren mit
handgestickten Fantasie-Labels auf der Kleidung - einfach köstlich. Doch auch
die Altkleider-Schwemme ebbt ab; nun zieht Li als Verkäufer von
Wundermittelchen durchs Land. Als nach grotesken Abenteuern Li steinreich in die
Heimat zurückkehrt, nimmt die Geschichte der ungleichen Brüder eine traurige
Wendung. Grund dafür ist, dass Li und Song Gang im entscheidenden Moment nicht
miteinander sprechen und Lin Hong Geheimnisse vor ihrem Mann hat.
Fazit
Der Roman enthält einige Längen. Für zartebesaitete Gemüter gibt es mehrere
Gründe, das Buch nicht zu lesen: die Szenen, die den Tod der Eltern schildern,
sind schwer zu ertragen, das letzte Drittel der grotesken Schelmengeschichte
befriedigt die Neugier des Lesers auf das wirkliche Leben in China nicht, die
Sexszenen sind nicht drastisch, sondern einfach nur grotesk. Wer das erträgt,
findet in "Brüder" einen liebevoll erzählten und in zeitgemäßes
Deutsch übersetzten Roman. Die rührende Fürsorge des Herrn Song um seine
Söhne noch aus der Haft heraus, die Gutmütigkeit Song Gangs oder Typen wie
Stieleis-Wang machen die traumatischen Erlebnisse der Brüder während der
Kulturrevolution für die Leser mehr als wett. Die Persönlichkeit des
Glatzkopf-Li, der jeden um den Finger zu wickeln versteht, und Lis Abenteuerlust
vermitteln eine Ahnung davon, welche Pionier-Typen ein Land vom Plumpsklo-Niveau
ohne Umwege direkt ins Raumfahrtzeitalter katapultieren könnten.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 13. Januar 2011 2011-01-13 13:57:48