Die DVDs sind sorgfältig beschriftet - Jenna Fox, 7 Jahre, Jenna Fox, 8 Jahre.
Das Mädchen, das die Filme zeigen, wurde von seinen Eltern sichtlich geliebt
und umsorgt. Die erwachsene Jenna Fox kann sich nach einem schweren Unfall nicht
mehr an ihre Kindheit erinnern. Ihrer Mutter muss Jenna zunächst glauben, dass
sie das Mädchen in den Filmen ist. Sie soll brav, eine erfolgreiche
Ballett-Tänzerin und genauso gewesen sein, wie ihre Mutter sich eine Tochter
erträumt hatte. Jenna kommen erste Zweifel. War ihr Leben in Wirklichkeit
vielleicht ganz anders? Die Familie ist gerade aus Boston nach Kalifornien
gezogen. In Jennas Zimmer gibt es nichts aus einem früheren Leben. Niemand
mailt der angeblichen Jenna, niemand erkundigt sich danach, wie es ihr geht.
Erst allmählich lernt Jenna wieder laufen, Hände und Füße scheinen noch
nicht zu ihr zu gehören. Große Probleme hat die Siebzehnjährige damit,
Gefühle auszudrücken und den Gesichtsausdruck anderer zu deuten. Wenn jemand
die Mundwinkel hochzieht, bedeutet das Lächeln, so viel weiß Jenna inzwischen.
Was ist Hass, was ist Neugier? Einige Begriffe sind nur Wörter, deren Bedeutung
Jenna neu lernt. Jennas Mutter kontrolliert jeden Schritt ihrer Tochter,
verhindert ängstlich jeden Kontakt nach außen und lässt Jenna erst nach
langem Zögern wieder zur Schule gehen. Man fragt sich, wie lange eine beinahe
erwachsene junge Frau sich noch brav wie ein kleines Mädchen kontrollieren
lassen wird.
In wenigen Nebensätzen wird deutlich, dass die Handlung in der Zukunft, nach
dem Jahr 2023 spielt. An einer Seuche ist ein Viertel der Erdbevölkerung
gestorben, weil Antibiotika längst nicht mehr wirken. Das NEWF, ein rigides
Gesundheitssystem, legt in einem Punktekatalog fest, wessen Leben lebenswert
ist. Die schwerverletzte Jenna hätte nach den Regeln nicht weiterleben
dürfen. Ihr Vater hat das Leben seines einzigen Kindes mit einem
unausgereiften, nicht zugelassenen Verfahren gerettet, das von der
Gesundheitsbehörde nicht zugelassen ist. Der Preis für Jennas Leben ist nun
die tägliche Angst, entdeckt zu werden. Ob ihr Leben in ständiger
Abhängigkeit lebenswert ist, fragt Jenna sich anfangs noch nicht.
Langsam auftauchende Erinnerungsschnipsel lassen Jenna zunehmend kritische
Fragen stellen. Warum lehnt ihre Großmutter, die in den Filmen so liebevoll
wirkte, Jenna geradezu schroff ab? Warum kommt es zwischen Eltern und
Großmutter immer wieder zu Konflikten? Wer ist die neue Jenna, hat sie eine
Seele und was ist mit den beiden Freunden passiert, mit denen Jenna damals
gemeinsam verunglückte? Als Jenna herausfindet, wer sie ist, muss sie sich
fragen, ob sie - so wie sie ist - den hohen Ansprüchen ihrer Eltern je genügen
kann.
Mary Pearson legt geschickt Hinweise aus, die an den Erklärungen von Jennas
Eltern zweifeln lassen. Während Jenna mehr über sich herausfindet, mag man
kaum glauben, dass die selbe Jenna sich zu Beginn der Handlung Empfindungen
anderer nur schwer vorstellen konnte. Klug und selbstkritisch wirkt die junge
Frau, die sich gegen die allgegenwärtige Kontrolle ihrer Eltern auflehnt. Die
spannende Handlung, die den Leser förmlich in die utopische Geschichte hinein
saugt, endet verblüffend. Die Auflösung im letzten Kapitel lässt Jennas
Geschichte noch lange nachklingen; sie hat mich an diesem Buch am stärksten
berührt.
Fazit
Für einen Jugendroman, der ernste ethische Fragen nach dem Ende des
menschlichen Lebens aufwirft, lässt sich Zweiunddieselbe erstaunlich flüssig
lesen. Problemlos kann ein Leser der Gegenwart sich in Jennas Gefühle
versetzen. Pearson wirft Fragen danach auf, welche Grenzen Eltern bereit sind zu
überschreiten, um das Leben ihres Kindes zu retten, und ob Menschen tun
dürfen, wozu sie rein technisch in der Lage wären.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 26. Dezember 2010 2010-12-26 17:37:14