Noch nie hatte die Anwältin Dóra Gudmundsdóttir sich in Anwesenheit eines
Menschen so unbehaglich gefühlt. Jósteinn, Insasse der einzigen isländischen
Anstalt für psychisch kranke Straftäter, hat Dóra nicht wegen seines eigenen
Verfahrens in die Strafanstalt bestellt. Der Sexualstraftäter, der für
schuldunfähig erklärt wurde, beauftragt Dóra, für seinen Mitinsassen Jakob
eine Wiederaufnahme seines Verfahrens vorzubereiten. Jakob leidet am
Down-Syndrom und ist als Brandstifter verurteilt worden. Beim Brand des Heimes,
in dem der junge Mann damals lebte, kamen die Bewohner und ein Hausmeister ums
Leben. Patienten mit Down-Syndrom sind liebenswerte, kontakfreudige Menschen, so
dass man bald zweifelt, ob Jakob eine so kühl geplante Tat durchgeführt haben
kann. Wer hatte die grausame Idee, Jakob gemeinsam mit Mehrfachbehinderten
unterzubringen, die nicht mit anderen Menschen kommunizieren können? In diesem
Heim wurde offenbar schon vor dem Brand allerlei vertuscht. Einvardur, der
Vater eines beim Brand getöteten Bewohners, ist ein hohes Tier im
Justizministerium und lässt offenbar von dort seine Beziehungen spielen.
Natürlich muss es in einem Roman aus Island kräftig spuken, um die Leser des
Buches in die nötige düstere Stimmung zu versetzen. Dóra sichtet Akten,
befragt die Familien der Opfer und rätselt, was Jósteinn mit seiner Aktion
überhaupt bezwecken will. Die Anwältin, die sich vorher nie Gedanken darüber
gemacht hat, wie Behinderte in Island betreut werden, kommt bald dahinter, dass
Jakobs Pflichtverteidiger alles andere als seine Pflicht getan und das
Gerichtsverfahren nur widerwillig abgesessen hat. Jakobs kindlich wirkende
Aussagen sind Dóra keine Hilfe. Beim Sichten des Filmmaterials für einen
geplanten Dokumentarfilm über das Heim tauchen für Dora mehr ungeklärte
Fragen als Antworten auf. Den Überblick über alle lebenden und bereits
verstorbenen Personen behält man mithilfe der Personenliste zu Beginn des
Buches. Kryptische SMS zeigen der Anwältin, dass jemand aus der Anonymität
heraus ein starkes Interesse an der Wiederaufnhame von Jakobs Verfahren haben
muss. Der Fall, der den Tod mehrerer stark behinderter Heimbewohner untersucht,
entwickelt eine ganz eigene Spannung als außer dem geistig behinderten Jakob
eine weitere Zeugin auftaucht, die sich nur eingeschränkt äußern kann.
Phantasie und Einfühlung in Dóras besondere Klienten sind gefragt. Von Jakobs
liebenswerter Persönlichkeit wird kaum jemand unberührt bleiben.
Die Datumsangabe am Beginn jedes Kapitels katapultiert den Leser mitten ins Jahr
2010 und lässt Sigurdadóttirs fünften Krimi um die Anwältin Dora
Gudmundsdóttir besonders eindringlich wirken. Doras deutscher Freund Matthias
hat während der Wirtschaftskrise seine Stelle bei der Bank verloren und kann
Dóra deshalb bei ihren Ermittlungen begleiten.
Fazit
Wie vordergründig durch ein topmodernes Pflegeheim für die behinderten
Heimbewohner das Beste erreicht werden sollte und nun bestimmte Personen ihre
egoistischen Interessen zu verheimlichen suchen, vermittelt Yrsa Sigurdadóttir
fesselnd. Ein spannender Krimi, der in die Welt von geistig und körperlich
Behinderten führt und auch ohne Kenntnis der vorangegangenen Titel
verständlich ist.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 08. Dezember 2010 2010-12-08 08:49:35