Andere Wahrheiten
Johann Wolfgang von Goethe hat ein monumentales Werk hinterlassen, dass nicht
zuletzt beredet Kunde von seinen vielseitigen Interessen, aber auch vielseitigen
Talenten hinterlassen hat. Unter anderem hat Goethe auch Kunde über sein Leben
aus eigener Feder hinterlassen. In "Aus meinem Leben. Dichtung und
Wahrheit" findet sich eine Autobiographie des Meisters der Dichter.
Was aber passiert, wenn man sich in der Gegenwart aufmacht und die Eigenaussage
Goethes einer Überprüfung unterzieht? Und dies nicht verbissen auf der Suche
nach der Dichtung in der Wahrheit, wohl aber mit kundigem Blick und gründlicher
Recherche?
Nun, dann taucht ein anderes Bild auf als das, was Goethe selbst doch deutlich
geschönt der Welt von seinen Kinder- und jungen Jahren hinterlassen hat. Nicht
aber minder interessant und, in Teilen, durchaus faszinierend, ist es, was
Werner Völkel auf seiner biographischen Spurensuche ausgräbt und nun,
gesammelt, vorlegt.
So finden wir in Goethe als Studenten immer noch einen jungen Mann vor, der kaum
etwas mehr sucht und genießt als die Geborgenheit einer Familie. Verliebt in
die Pfarrerstochter Friederike sucht Goethe umgehend ebenfalls Anschluss an
deren Elternhaus und ist in kürzester Zeit fast mit aufgenommen in den
Familienverbund. Erstaunlich zur damaligen Zeit, die eng und strikt auf Etikette
achtete und im Blick auf einen Goethe, der noch lange nicht jene Strahlkraft
erlangt hatte, die ihm späterhin alle Türen öffnete.
Ebenso klug beobachtet von Völker und bereits aus wenigen, unscheinbaren Zeilen
mancher Lieddichtungen Goethes der damaligen Zeit zu entnehmen, deutet sich das
Ende der Verliebtheit an.
Ein exemplarischer Vorgang im Buch, denn gerade dies ist eine der wirklichen
Stärken des Buches, dass Werner Völker die Texte Goethes, auch eher
unbekanntes Material, genau kennt und in den Feinheiten in Verbindung mit der je
aktuellen Lebenslage des heranwachsenden Dichters zu bringen vermag.
Mehr als die autobiographischen Aussagen Goethes legen bei einem solchen
Menschen, der alles, was er erlebt in der ein oder andern Form reflektiert in
seine Kunst mit einließen ließ, die Dichtungen und Texte Zeugnis über die
wahren Ereignisse und den tatsächlichen Gemütszustand ab.
Ausführlich und im Detail legt Werner Völker hierbei seine Spurensuche vor und
wertet hierbei eine ganze Reihe von zeitgenössischen Quellen aus. Von der
Geburt über die Kindheit im Hirschgraben in Frankfurt, das Heranwachsen in der
Jugend bis hin zu den Studentenjahren in Straßburg und der Zeit der ersten
Berufstätigkeit als Jurist, die er mit 22 Jahren in Frankfurt begann, reicht
der äußere Bogen der Lebensbeschreibung.
Die "Sturm und Drangjahre" des Dichters, die Schaffung weltberühmter
Werke wie Egmont oder Götz von Berlichingen, das Ertasten der eigenen Begabung,
all dies fließt mit ein in dieses umfassende Lebensbild, das äußere Stationen
und Ereignisse, Beziehungen und Freundschaften, Familienbindung ebenso aufzeigt
wie die Entstehung der Dichtkunst und der schriftstellerischen Kraft in Goethe.
Ganz zu recht verweist Völker darauf (und weist dies auch nach), dass Goethe
kein Wunderkind im Sinne eines Mozart war, sondern sich sein Talent langsam
entfaltete. Hierzu passt auch die Zeit des Studiums, dass Goethe trotz durchaus
erster Erfolge als Schriftsteller mit klarer Priorität betrieb. Die Geschichten
um die Dissertation Goethes herum zeugen zumindest davon, dass Goethe ein
äußerst kundiger Student der Rechte war, der es verstand, durchaus kreativ den
damals aktuellen Stand der Rechtskultur zu erfassen, darzustellen und zu
bearbeiten. Im Gesamten entsteht so ein sehr persönliches, menschliches Bild
des späteren Genius.
Fazit
Mit Hilfe vieler Quellen und Aussagen von Zeitzeugen zeichnet Völker ein
überzeugendes und menschliches Bild Goethes. Ein Bild, in dem auch der eigene
Umgang Goethes mit seiner Geschichte und die manches Mal geschönte Erinnerung
Goethes selbst sich einfügen in das Gesamtbild der Person Goethes.
Amüsant und flüssig zu lesen tauchen keine weltbewegenden, neuen Details aus
dem Leben Goethes auf, wohl aber zurecht Rückungen und die ein oder andere
vertiefende Erläuterung des Hintergrundes, die so manches an der Entwicklung
des jungen Dichters schärfer erläutern und ins Licht rücken.
Bedauerlich ist das Fehlen einer übersichtlich gestalteten Zeittafel, die doch
das ein oder andere Mal eine Orientierung im Buch erleichtert hätte, dem
Lesevergnügen selbst tut dies allerdings keinen Abbruch.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 29. November 2010 2010-11-29 16:04:16