Wer in Kanadas Norden über die Stränge schlagen will, brettert mit dem
Motorschlitten durch die verschneite Landschaft. Schneemobilitis nennt der
elfjährige Ich-Erzähler die Sucht nach Geschwindigkeit, an der sein Vater litt
und die ihn das Leben kostete. Seit dem Unfall mit dem Scooter liegt die Mutter
im Koma. Der kleine Sohn verdankt sein Leben dem Lesen; denn am Tag des Unfalls
konnte er sich nicht von seinem Buch trennen und war zuhause geblieben. In einem
Dorf am Nordufer des St. Lorenz-Stroms gegenüber der Île aux Oeufs betreuen
nun die Großeltern ihren Enkel, der von verstörenden Alpträumen verfolgt
wird.
Die Begegnung mit Luc, seinem neuen Klassenkameraden, versetzt das elternlose
Kind in eine neue Welt. Luc verschlingt dicke Schmöker über Meeresbiologie und
sondert sich auch sonst gern von den Gleichaltrigen ab. Sein Idol ist Jacques
Cousteau, sein Traum eine Taucherausrüstung. Luc haust mit seinem
gewalttätigen Vater in einem Wohnwagen, zwischen Hummerfallen und Teilen von
ausgemusterten Bootsmotoren. Zerlumpte Kinder wie Luc sind in den Familien des
Dorfes als Spielkameraden nicht gern gesehen. Lucs Mutter verschwand eines
Tages. Ob sie fortgezogen oder beim Schwimmen ertrunken sein könnte, darüber
wird im Ort nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Die beiden Jungen fühlen
sich durch ihre Mutterlosigkeit miteinander verbunden. Luc lädt seinen neuen
Freund in sein Universum am Strand. Er hat sich in einer gewaltigen Höhle
eingerichtet, in der er einen ausgestopften Leguan als Verbindung zur Welt der
Ozeane hält. Der Leguan ist Lucs Medium, mit dessen Hilfe er in die Welt der
Träume übertritt - immer auf der Suche nach seiner Mutter. Die Oma des
Icherzählers ist mit Lucs Äußerem zwar nicht einverstanden, springt trotzdem
über ihren Schatten und lädt den Jungen zu sich ein. Bald wird klar, dass Luc
gute Gründe hat, über die Verhältnisse im väterlichen Wohnwagen zu
schweigen. Luc kann sich nichts Schlimmeres vorstellen, als dass das Jugendamt
ihn fern des Meeres in eine Pflegefamilie geben würde.
Während der Erzähler immer wieder den Unfall seiner Eltern im Traum
durchlebt, nimmt Luc ein ehrgeiziges Projekt in Angriff: er will die Mutter
seines Freundes aus dem Koma wecken. Eine Mutter im Koma ist wenigstens eine
Mutter; Luc scheint den Kampf um die schwer verletzte Frau stellvertretend für
seine eigene Muttersuche zu führen.
Ein "kathodisches Zischen schlaftrunkenen Wassers" - der altkluge
Erzähler der ersten Szenen des Buches schreibt und zeichnet sich im Laufe der
Handlung frei. Mit Unterstützung seiner Großmutter - eine Person wie sie wäre
im wirklichen Leben der Wunschtraum jedes verlassenen Kindes - entwickelt sich
eine Kinderfreundschaft, die von der Kraft der Träume getragen wird. Ihre
Traumwelt dient beiden Jungen zur Bewältigung von Verlusten. Doch Luc, in
dessen Leben die Lebensräume Luft und Wasser nahtlos ineinander überzugehen
scheinen, muss noch einen Schritt weiter gehen.
Fazit
Denis Thériault, der selbst von der Nordküste des St. Lorenz stammt, legt
nach
Siebzehn Silben Ewigkeit mit Das Lächeln des Leguans den
kraftvollen, märchenhaften Roman einer Kinderfreundschaft vor.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 22. November 2010 2010-11-22 08:48:40